Die Goldspinnerin: Historischer Roman (German Edition)
Geldbeutel ging, blieb nur das Armenhaus, doch sie verspürte wenig Lust, wieder dorthin zurückzukehren, auch wenn sie gern gewusst hätte, was aus den Frauen geworden war, die sie dort kennengelernt hatte. Sie machte sich von Elisabeth frei, die sie noch immer umfasst hielt, und strich dem Kind über die Locken. »Sei ein braves Mädchen und geh mit der Schwester. Bis morgen.«
Elisabeth blickte ihr nach, während sie hinausging.
Wie schwer es Cristin fiel, sie wieder in die Obhut der Nonnen zu geben, wusste nur sie allein. Bloß für kurz, tröstete sie sich. Wenn die Verhandlung beendet ist, werden wir wieder vereint sein.
29
C ristin krallte die Finger um die Lehnen des Stuhles, als der Angeklagte hoch erhobenen Hauptes in Begleitung eines Büttels den Gerichtssaal betrat. Lynhard. Im Gegensatz zum Tag seiner Verhaftung vor zwei Wochen schien er sich wieder gefangen zu haben, auch wenn die eingefallen wirkenden Wangen und das kantige Kinn dringend eines Besuchs beim Bader bedurften. Du siehst schlecht aus, Schwager, dachte Cristin mit einer gewissen Befriedigung. Macht die wässrige Suppe mit dem winzigen Stück Fleisch darin dich etwa nicht satt?
Am vergangenen Abend hatte Mechthild den Wunsch geäußert, bei der Verhandlung anwesend zu sein.
»Erspar dir die Schmach«, war Cristins knappe Antwort gewesen.
Nach ihrem Besuch im Nonnenkloster hatte sie das Angebot ihrer Schwägerin angenommen und war bei ihr eingezogen, dennoch herrschte immer noch eine gewisse Anspannung zwischen ihnen.
Während Lynhard an Cristin vorüberging, traf sie sein Blick. Sie spürte das Blut in ihrem Hals pulsieren und senkte die Lider. Selbst jetzt, im Gewahrsam des Gerichts, strahlte dieser Mann Gefahr aus und ließ sie frösteln. Sie wandte sich ab und sah zu einem der hohen Fenster empor, wo dicke Tropfen an der trüben Scheibe hinabliefen. Weil es seit diesem Morgen fast ununterbrochen regnete, hatte der Vogt den Prozess kurzerhand ins Rathaus verlegt. Cristin spürte die fragenden Augenpaare der Zuschauer im Rücken und hörte das leise Getuschel in den Bänken hinter sich. Seht nur, da ist sie – Lukas Bremers Frau. Wie mutig von ihr zurückzukommen.Sie wagt es, den eigenen Schwager zu verklagen. Wie diese Sache wohl enden mag?
Sie straffte den Rücken und schaute sich im Saal um. An der einen Seite befand sich ein Pult, hinter dem der Gerichtsschreiber stand, in der Hand eine Stegbrille, durch die der schmalbrüstige Mann ein Schriftstück studierte. Ihm gegenüber saßen die Schöffen, Kaufleute und Ratsmitglieder, wohlhabende und angesehene Bürger allesamt, die ihre feuchten Filzhüte in den Händen hielten und sich in den regennassen Mänteln sichtlich unwohl fühlten. Viele der Männer waren auch dabei gewesen, als man ihr den Prozess gemacht hatte. Die unverhohlen neugierigen Blicke der Männer wechselten zwischen Cristin und Lynhard, der mit dem Rücken zu ihr, Baldo und den beiden Polinnen auf der Anklagebank Platz genommen hatte. Der Büttel nahm hinter ihm Aufstellung. Nun öffnete sich die Tür, und Vogt Büttenwart und der etwa halb so alte Ankläger, das bereits dünne Haar seitlich über den Schädel gekämmt, betraten den Saal. Nur zu gut erinnerte sich Cristin daran, wie Kunolf Mangel sie damals vernommen hatte. Zuschauer, Schöffen, Büttel und der Angeklagte erhoben sich, Richteherr und Fiskal ließen sich hinter einem breiten Tisch in der Mitte des Saales nieder. Nachdem sich die Anwesenden wieder gesetzt hatten, verlas der Gerichtsschreiber die Namen der zwölf Schöffen.
Nach dem kurzen Gebet eines Priesters stand der Fiskal auf und wandte sich an den Angeklagten. »Lynhard Bremer, Ihr steht heute vor Richteherr Büttenwart, weil im Namen des Rates der Stadt Lübeck Blutgericht gegen Euch gehalten wird. Man klagt Euch des abscheulichen Verbrechens an, Euren eigenen Bruder umgebracht zu haben. Ihr habt die letzten zwei Wochen in der Fronerei zugebracht und hattet somit genug Gelegenheit, darüber nachzudenken, ob Ihr ein Geständnis ablegen und Euer Gewissen erleichtern wollt. Seid Ihr bereit, das zu tun?«
Während nichts außer dem Kratzen des Federkiels auf dem Pergament zu hören war, auf dem der Gerichtsschreiber das Gesagte mitschrieb, beugte sich Cristin vor. Baldo tat es ihr gleich.
»Herr Fiskal, ich sehe keinen Grund, mein Gewissen zu erleichtern. Ich habe meinen Bruder geliebt. Warum also hätte ich ihm etwas zuleide tun sollen? Ich verstehe nicht, wie Ihr überhaupt dazu kommt,
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