Die Goldspinnerin: Historischer Roman (German Edition)
Jugendzeit«, begann der Mann, der sich als Ullrych Linde vorgestellt hatte. »Wir haben im selben Dorf gelebt. Schon damals munkelten die Nachbarn, dass Cristin über eine seltene Gabe verfügt.«
»Welche Gabe?«
»Nun, schon im Alter von zehn, elf Jahren soll sie zuweilen die Kranken im Dorf mit der Hand berührt haben, und danach ging es ihnen besser. So redeten die Leute. Sie selbst hat nie darüber gesprochen. Aber wir wissen es genau!«
Die junge Frau nickte eifrig. »Ja. Mir hat sie auch mal die Hand aufgelegt, als ich unter furchtbaren Bauchschmerzen zusammengebrochen bin. Meine Schmerzen haben sofort nachgelassen.«
Grede blickte zu Cristin herüber. »Aber wir waren noch Kinder und wussten nichts von diesen Dingen. Als nichts weiter geschah, hörte das Getuschel schließlich auf. Für mich war sie wie eine Heilige …«
»Schweig! Dieses Weib ist mit Sicherheit keine Heilige! Cristin Bremer steht vor diesem Gericht, weil sie mit dem Leibhaftigen im Bunde ist. Mit ihrer Hexenkunst hat sie ihren Mann getötet.«
»Beim Jesuskind und bei der Jungfrau Maria!« Die junge Frau riss die Augen auf, machte schnell das Zeichen gegen den bösen Blick und wandte den Kopf ab. »Sie soll ihren Mann getötet haben? Das ist ja schrecklich!«
»Allerdings. Deshalb wird dieses Weib auch seiner gerechten Strafe zugeführt werden. Jetzt herunter mit euch. Wir haben eure Aussage gehört und zu Protokoll genommen.«
Während die jungen Leute vom Podium hinabstiegen und in der Menge verschwanden, trat Mangel noch näher an Cristin heran. »Ich nehme an, Ihr leugnet immer noch, was Euch zur Last gelegt wird?«
Sie hob den Kopf. »Ja. Ich bin … weder eine Hexe noch eine Mörderin, sondern ein Christenmensch wie die meisten hier. Auch wenn ich nicht zu jeder Messe gegangen …«
»Schweigt!«, unterbrach Vogt Büttenwart sie. »Ich habe schon vermutet, dass Ihr nichts zugeben werdet. Deshalb habe ich bereits alles für eine Bahrprobe vorbereiten lassen.«
Unter den Zuschauern entstand Unruhe, und das Getuschel drang deutlich an ihre Ohren. »Was sagt er? Eine Bahrprobe?«
»Das heißt, Lukas Bremers Leichnam wird wieder aus …«
»Ruhe!« Büttenwart wandte sich an den Stadtschreiber. »Nimm Folgendes zu Protokoll: Die Angeklagte leugnet und wird deshalb einem Gottesurteil unterzogen. Fiskal Mangel, Ihr kommt mit mir und dem Stadtschreiber auf den Friedhof, wo wir die Bahrprobe in Anwesenheit eines Priesters durchführen werden. Medicus Küppers hat sich angeboten, uns zu begleiten. Dort wird sich entscheiden, ob die Angeklagte die Wahrheit sagt!«
Cristin stand regungslos und mit gesenktem Kopf vor ihren Klägern. Sie war unendlich müde. Ihre Gedanken kreisten um Elisabeth und um die bange Frage, was nun mit ihr selbst geschehen würde. Hunger und Schrecken benebelten ihren Verstand, ihre Brüste waren prall mit Milch gefüllt und schmerzten. Mühsam nahm sie sich zusammen, aber die Bedeutung der Worte Büttenwarts, die wie Donner in ihr hallten, drang nur langsam in ihr Bewusstsein. Bahrprobe? Was mochte das sein? Dem Geraune der Leute zufolge musste es etwas mit Lukas’ Leichnam zu tun haben. Zögernd hob sie den Kopf und schaute dem Richteherrn ins Gesicht. Seine undurchdringliche Miene ließ keine Rückschlüsse auf dessen Vorhaben zu noch entdeckte sie einen Hauch Milde darin. Eine Ahnung beschlich Cristin, und sie sog hörbar die Luft ein, während sich die feinen Härchen auf ihrem Körper aufrichteten.
»Vogt Büttenwart, sollen wir?«, hörte sie den Fiskal fragen.
Der Richteherr nickte. »Büttel, nehmt die Schere. Und haltet die Frau gut fest!«
Ihre Augen weiteten sich, und sie machte eine abwehrende Handbewegung. »Was wollt Ihr?«
»Es ist üblich, den Angeklagten, ob Mann oder Weib, vor dem Gottesgericht das Haar abzuschneiden«, erklärte Mangel.
Im nächsten Moment packten sie zwei kräftige Hände und umklammerten ihre Arme wie Schraubstöcke.
Nein, nicht ihre Haare! Der andere Büttel griff in ihre vollen Locken und setzte mit der anderen Hand die Schere an. Cristin schrie auf, denn der Mann ging nicht gerade vorsichtig zu Werke, dann verschleierten Tränen der Scham ihre Sicht. Aber so sehr sie sich auch wehrte, gegen die Kraft der Büttel war sie machtlos. Die ersten Locken fielen, und ihre rotblonden Strähnen bildeten einen leuchtenden Fleck auf dem Steinboden des Gerichts. Sie schluckte, dann hatte der Mann sein Werk vollendet. Als man sie endlich wieder losließ, fuhr sie zitternd
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