Die Goldspinnerin: Historischer Roman (German Edition)
lebt!, dachte sie. Sein Herz schlug flach, aber regelmäßig. Sie ließ ihren Blick über Brustkorb und Bauch gleiten und schob mit spitzen Fingern die Fetzen seines Wamses beiseite. Eine klaffende Wunde zog sich unterhalb der Rippen abwärts bis zur Hüfte hinunter, und aus seinem Oberschenkel war ein Stück Muskelfleisch regelrecht herausgerissen worden. Cristin stöhnte. Sie wandte sich ab und erbrach das wenige, was sie im Magen hatte, auf den Waldboden. Als ihr Würgreiz endlich nachließ, bekreuzigte sie sich, dennoch konnte sie den Blick nicht von Baldos geschundenem Körper wenden.
Ich muss etwas tun, so schnell wie möglich, sagte sie sich. Schon öfter hatte sie von Verletzungen gehört, die übel aussahen und die Kranken von innen her zerfraßen, bis sie schließlich jämmerlich daran zugrunde gegangen waren. An Baldos Oberschenkel waren graue Tierhaare und Erdkrümel zu erkennen. Der Schmutz und die Haare müssen fort, dachte sie. Manch Gelehrter behauptete, jede Krankheit werde durch das Ungleichgewicht der Körpersäfte ausgelöst. Andere, meistens Kräuterweiber, glaubten hingegen, böse Geister würden in den Kranken wüten. Was wusste sie als einfache Kaufmannsfrau schon von Medizin? Unsicheren Schrittes stand sie auf und fuhr dem verängstigten Hund über das weiche Fell. »Bleib bei deinem Herrn! Du musst auf ihn aufpassen, verstehst du?«
Mit einem leisen Winseln legte der Hovawart sich zu Baldos Füßen.
»Guter Hund. Ich komm bald wieder.«
Während sie mit bangem Herzen überlegte, welche Richtung sie nun einschlagen sollte, sah sie im Gras etwas aufblitzen. Ein Messer! Cristin bückte sich und hob es auf. An der Klinge klebte noch Blut. Ein Schauer überlief sie. Sie wischte das Messer am Gras sauber und schritt weiter. Wo war der Wassersack? Sie zwang ihre Füße zum Laufen. Die Frage war: Hatte Baldo überhaupt Wasser gefunden, oder war er vorher von der wild gewordenen Sau überrascht worden? Würde ein totes Schwein nicht andere Raubtiere anziehen, Füchse oder gar Wölfe? Was, wenn das Gerede über die wilden, behaarten Kerle stimmte, die in den Wäldern um Lübeck hausten, Fleisch gewordene Dämonen und Geister, die Jungfrauen aus den Dörfern entführten und fraßen? Eigentlich glaubte sie diese alten Märchen nicht, doch schließlich war an jedem Gerücht auch ein Funken Wahrheit dran.
Das Glück war ihr hold, und sie fand den Ziegenlederschlauch, der in den Zweigen eines niedrigen Gehölzes hing. Baldo musste ihn auf seiner Flucht vor dem Wildschwein fortgeworfen oder verloren haben. Cristin atmete auf, denn der Schlauch war prall gefüllt, und sie beschleunigte ihre Schritte. Ein schwaches Geräusch drang an ihr Ohr. Sie lief weiter, erreichte einen schmalen Bach, der sich durch den Waldboden schlängelte. Tränen der Erleichterung stiegen ihr in die Augen. Cristin prägte sich den Weg ein und rannte zurück zu Baldo.
Er war noch immer ohne Bewusstsein. Das ist gut, er wird Schmerzen haben, wenn er erwacht, dachte sie. Der Hund lag neben ihm und beäugte jede ihrer Bewegungen, während sie mit bebenden Händen das Messer reinigte. Sie schloss die Augen und wappnete sich. Es musste sein. Mithilfe des Messers zerschnitt sie sein Wams und warf die Stoffteile achtlos ins Gras. Auch aus seiner Hose entfernte sie ein Stück Stoff, damit die Wunden freilagen. Noch einmal reinigte sie das Messer und hielt es so an die Wunde seines Schenkels, dass sie die Fremdkörper entfernen konnte. Langsam, ganz vorsichtig, ermahnte sie sich, während sie ein Haar nach dem anderen herausschabte. Sie konnte nur hoffen, Baldos Ohnmacht möge anhalten, bis ihre Arbeit beendet war. Wenn er nur einmal zuckte oder sich bewegte …
Dann war es geschafft. Für einen Augenblick lehnte Cristin sich zurück und ließ den leichten Wind ihre erhitzten Wangen kühlen. Nun kam der zweite Teil der Prozedur. Sie zog den Korken aus der Öffnung des Wassersacks und goss etwas Wasser über die Wunde. Und jetzt? In ihrer Erregung hatte sie sich keine Gedanken darüber gemacht, womit sie Baldos Wunden säubern sollte. Ein Blick in die Umgebung sagte ihr, dass selbst die Blätter der Eichen noch zu klein waren, um etwas zu taugen, außerdem saugten sie kaum Flüssigkeit auf. Dennoch war dies die einzige Möglichkeit. Rasch sammelte sie so viele Blätter, wie sie tragen konnte, und reinigte, so gut es ging, damit seine Wunden. Zwischendurch lief sie zweimal zum Bach und holte neues Wasser. Danach wendete sie sich dem Riss
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