Die Goldspinnerin: Historischer Roman (German Edition)
in den Holzbalken und wärmten ihr Gesicht. Cristin blinzelte. Zunächst wusste sie nicht, wo sie sich befand, doch dann erkannte sie die Köhlerhütte wieder. Der Platz, an dem Baldo vergangene Nacht geschlafen hatte, war leer. Sie lauschte den Geräuschen der erwachenden Natur, und ihr war, als wäre ihrem Körper jede Kraft entzogen worden. Ob Elisabeth nach ihr weinte? Sogleich schoss neue Milch in ihre Brüste. Mit einem Seufzer stand sie auf, band ihr Kopftuch fest und dehnte die Glieder. Es war so still. Baldo musste den Hund mitgenommen haben, sogar der Wassersack war fort. Schleppenden Schrittes ging sie zur Tür und öffnete sie, da sie frische Luft brauchte. Zaghaft lugte sie nach allen Seiten. Merkwürdig! Wo die beiden nur blieben?
Gerade wollte sie in die Hütte zurückgehen, da erregte ein Laut ihre Aufmerksamkeit. Cristin blieb stehen, horchte. Nichts. Da es noch kühl war, holte sie ihre Decke aus der Hütte und schlang sie sich um die Schultern. Noch einmal blickte sie sich um, aber sie war allein. Sie verließ die kleine Lichtung und ging ein paar Schritte auf dem schmalen Pfad, der sie gestern Abend hergeführt hatte. Wieder horchte sie in die Stille des Waldes, spähte links und rechts des Weges zwischen Bäume und Gestrüpp. Gras und hüfthohe Farne schimmerten feucht in der Sonne, Vögel waren auf der Suche nach Zweigen und Moos für ihre Nester.
Da! Da war es wieder, dieses Geräusch, das die heitere und ruhige Atmosphäre des Waldes zerschnitt. Es schien zwischen den Bäumen und dem Gebüsch widerzuhallen. Wie angewurzelt blieb sie vor einer alten Buche stehen. Es klang fast wie ein Winseln, nach Angst und Gefahr. Cristin war wie gelähmt und lauschte erneut, während sich ihre Gedanken überschlugen. Fieberhaft suchte sie die Umgebung ab, und als sich zwischen einer Reihe erblühender Büsche ein schwarz geflecktes Fellbündel löste, stockte ihr der Atem.
»Hund, bist du das?« Beim Näherkommen konnte sie seine Schlappohren erkennen. Cristin hockte sich hin und rief ihn mit beruhigender Stimme.
Der Hund stieß nur ein klägliches Jaulen aus und rollte mit den Augen. Erst nach kurzem Zögern kam er näher, schaute sie mit eingezogenem Schwanz an.
Sie streckte ihre Hand aus und streichelte ihn, während sie ihn sanft auf Verletzungen hin abtastete. Zitternd ließ das Tier es über sich ergehen. »Mein Kleiner, was ist passiert? Wo ist dein Herr?« Der Hund bellte laut und lief aufgeregt umher.
»Ich soll mitkommen? Dann lauf zu Baldo!«
Das Tier schien sie zu verstehen und rannte in den Wald hinein. Eine dunkle Vorahnung ergriff von ihr Besitz, als sich unter einem knorrigen Baum etwas Großes, Dunkles vom Waldboden abhob. Laut bellend jagte der Hund voraus und blieb dann stehen. Cristin rannte darauf zu. Was sie dort jedoch zu sehen bekam, überstieg ihre schlimmsten Befürchtungen. Bei dem Kadaver eines großen Tieres musste es sich um ein Wildschwein handeln. Blut tropfte auf den Waldboden und bildete bereits eine Lache. Unter dem Tier lag eine reglose Gestalt, von der nur noch Beine und Füße zu sehen waren. Wimmernd sank sie zu Boden und presste eine Hand auf den Mund, um den Würgreiz zu unterdrücken, der sie in Wellen zu überfallen drohte. »Baldo«, stammelte sie.
Während sie sich erhob, registrierte sie die Kampfspuren, die überall auszumachen waren. Mehrere Büsche waren niedergetrampelt, im Gras sowie am Stamm des Baumes, in dessen Schatten er lag, befanden sich Blutspritzer, und spitze Hauer hatten die Rinde einer Eiche an mehreren Stellen verletzt. Über allem schwebte der süßliche Geruch des Todes. Du darfst nicht tot sein, schrie es in ihr. Nicht du! Mit zusammengepressten Lippen stemmte sie sich gegen das wuchtige Schwein. Nichts. Noch einmal. Cristin roch ihre eigene Angst, doch sie sammelte Kraft, atmete tief ein, fluchte und versuchte es erneut. Sie fühlte, wie ihr das Blut vor Anstrengung ins Gesicht schoss, sah die Adern an ihren Handgelenken hervortreten. Ihr kam es wie eine Ewigkeit vor, bis der schwere Körper des Tieres sich endlich bewegen ließ und immer mehr von Baldos geschundenem Körper freigab. Dann fiel das Wildschwein mit einem hässlichen Geräusch zur Seite.
Baldos Wams und Hose waren zerrissen und blutbefleckt. Der Hund winselte, kauerte sich an die Seite des Jungen und leckte an seiner Hand. Cristin beugte sich über den Bewusstlosen, presste ihr Ohr an seine Brust und lauschte auf seinen Herzschlag. Er lebt. Dem Himmel sei Dank – er
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