Die Goldspinnerin: Historischer Roman (German Edition)
Daumennagel, hin und her flitzen sehen. Der Hund beobachtete sie aufmerksam mit schräg gelegtem Kopf.
Baldo zog den Korken des leeren Ziegenlederschlauchs heraus und tauchte ihn in das eiskalte Wasser, das gluckernd hineinlief. Dies war ein gutes Versteck. Sie würden genug zu essen finden und könnten sich bis zum Aufbruch am kommenden Abend stärken. Wie friedlich es hier war. Er genoss die Düfte des frühlingshaften Waldes, in dem nur das Plätschern des Baches und das Summen der Fliegen zu hören waren.
Jäh wurde die Stille von einem knackenden Geräusch durchbrochen. Er fuhr zusammen, lauschte auf menschliche Stimmen und Hufgetrappel. Nein, nichts. Ein Tier, wahrscheinlich ein Reh, vielleicht auch nur ein Eichkater. Er setzte den Schlauch an die Lippen, um zu trinken. Da! Wieder dieses Knacken, diesmal lauter, dann das Rascheln von Laub. Bewegungslos verharrte er, horchte, während aus der Kehle des Hundes ein tiefes Knurren aufstieg. Das Geräusch kam näher, etwas bewegte sich auf ihn zu, und ein modrig-erdiger Geruch umwehte seine Nase. Zögernd wandte er den Kopf. Und erstarrte. Im Unterholz, höchstens zwei Steinwürfe von ihm entfernt, stand ein mächtiges graues Tier und blickte ihn aus listigen Augen an. Die stumpfe, rüsselartige Schnauze bewegte sich leicht, und aus dem geöffneten Maul drang ein tiefes Grunzen, das ihm durch Mark und Bein ging. Das Tier scharrte mit den Hufen und schnaubte. Ein Wildschwein.
Baldo hatte nie eines gesehen, aber sein Vater hatte ihm davon erzählt, dass diese Tiere in den Wäldern um Lübeck lebten und gefährlich werden konnten, wenn sie sich gestört fühlten. Besonders jetzt im Frühling, wenn sie Junge hatten, waren die Säue unberechenbar. Er starrte auf die langen, gelblichen Hauer, die seitlich aus dem Maul hervorragten. Am Bauch des Tieres entdeckte er Zitzen und unterdrückte einen groben Fluch. Als es seinen keilförmigen Kopf sinken ließ, um mit der Schnauze im Boden zu wühlen, schaute er sich um. Nichts. Kein Versteck, kein umgestürzter Baum, hinter dessen Wurzel er sich in Sicherheit bringen konnte. Und zu allem Übel schienen seine Füße am Boden festgewachsen zu sein. Er fluchte in sich hinein, hob den Kopf. Da begegneten sich ihre Blicke, und die Augen der Wildsau funkelten kalt. Er schluckte.
Sie wartet. Sie wird mich jagen. Sie wird … seine Eingeweide krampften sich zusammen … mich töten. Denk nach, verdammt noch mal! Sobald ich mich bewege, wird sie … Wenn ich Glück habe … Ich muss es versuchen. Die Eiche dort hinten ist sicher stark genug, um mich zu tragen, meldete ihm sein Verstand.
So unauffällig wie möglich senkte Baldo den Kopf. Er hielt die Regungslosigkeit kaum noch aus, sein Atem ging stoßweise. Die Wildsau warf den Kopf hin und her und setzte sich bedrohlich schnaubend in Bewegung. In das Geräusch mischte sich helles Bellen, der Hovawart tauchte zwischen den Bäumen auf. Die Wildsau drehte ab, machte ein paar Schritte auf den Hund zu. Jetzt! Er rannte los, sprang über eine aus dem Boden ragende Baumwurzel und hechtete auf den Baum zu. Starke Äste, dachte er noch, da hörte er schon den erregten Atem des Tieres. Baldo machte einen Satz zur Seite. Um eine Handbreit hatte das Wildschwein ihn verfehlt. Ein Sprung nur noch. Schmerzhaft prallte er gegen den Stamm der Eiche, streckte beide Arme aus, versuchte den untersten Ast zu erreichen. Wieder hörte er die Sau schnauben, sie musste direkt hinter ihm sein. Er drehte den Kopf, blieb wie angewurzelt stehen, als sie auf ihn zukam. Speichel lief aus ihrem Maul, sie streckte die Hauer vor. Er tastete nach dem Messer, das an seinem Gürtel hing, umklammerte es. Doch es war zu spät. Im selben Moment durchzuckte ein furchtbarer Schmerz seinen Schenkel. Baldo fasste nach dem verletzten Bein, fühlte zerfetztes Fleisch und warmes Blut, das aus der Wunde strömte. Übelkeit stieg in ihm auf. Als die Sau ein zweites Mal auf ihn zustürzte, konnte er sie riechen. Er sah, wie die Augen des Tieres aufblitzten, und ging in die Hocke. Dann war das Tier über ihm.
Mit einer letzten Kraftanstrengung hob er die Hand und rammte der Sau das Messer zwischen die Rippen. Wie aus Nebeln hörte er sie brüllen, fühlte, wie ihr Blut über sein Gesicht spritzte. Erneut bohrten sich die messerscharfen Hauer in sein Fleisch, und gepeinigt schrie er auf. Taumelnd brach die Sau über ihm zusammen, dann wurde es Nacht um ihn.
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D ie hellen Strahlen der Morgensonne fielen durch die Öffnungen
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