Die Goldspinnerin: Historischer Roman (German Edition)
Staub gemacht haben. Aber wo konnte er stecken? Dieser Feigling! Er versuchte sicher nur, seinem Schicksal als nächster Scharfrichter der Stadt zu entgehen! Hatte Baldo etwa geglaubt, er würde unerkannt bleiben und könnte sich davonschleichen? Der Sohn führte das blutige Amt des Vaters fort, das war von jeher so gewesen. Du kennst mich schlecht, mein Junge, dachte Emmerik und warf die Knochenreste mit einem Fluch ins Feuer. Wenn ich will, werde ich dich finden.
Während er sich die fettigen Hände an einem Tuch abwischte und es achtlos zu Boden warf, kam ihm ein Gedanke. Er hob die Mundwinkel und lehnte sich mit verschränkten Armen in seinem Sessel zurück. Ja, das gefiel ihm. Wenn er wusste, wo der Taugenichts sich herumtrieb, konnte er immer noch entscheiden, was zu tun war. Vielleicht würde er ihn wie einen Fisch am Haken zappeln lassen, je nachdem, wonach ihm der Sinn stand. Baldo wird seine gerechte Strafe bekommen, nahm er sich vor und spie aus. Mit einem Verräter durfte man nicht zimperlich umspringen, selbst dann nicht, wenn es der eigene Sohn war. Emmerik fühlte Unruhe in sich aufsteigen. Der Abend war lau und trieb Mücken durch sein leicht geöffnetes Fenster. Noch einen Schluck aus seinem Becher, und er stand auf, nahm sein Wams vom Haken und streifte es sich über.
Adam saß auf einem Stuhl neben dem einzigen Fenster und blickte gedankenverloren durch die trüben Butzenscheiben auf die im sachten Wind tanzenden Zweige und Blätter eines Apfelbaumes in dem Obst- und Gemüsegarten hinter dem Haus. Er hörte Agnes’ leichte, schnelle Schritte, drehte sich aber nicht um, als sie eintrat.
»Wie geht es dir, Adam? Schmerzen die Narben?«, fragte sie.
»Nein«, log er. Immer noch ging sie mit ihm um wie mit einem Schwerverletzten. Oder wie mit einem Krüppel. Merkte sie denn nicht, dass er allein sein wollte? Er verzog das Gesicht. Woher sollte sie auch ahnen, wie linkisch und unsicher er sich immer in ihrer Nähe vorkam. Sie konnte ja nicht wissen, dass er sie inzwischen am liebsten von sich stoßen würde, wenn sie mit flinken Händen seine Wunden versorgte oder ihn bei ihren allabendlichen Gehübungen umfasste. Denn die Wärme ihrer Finger auf seiner Haut und ihre Berührungen lösten jedes Mal eine Fülle verwirrender Gefühle in ihm aus, über die er am besten nicht weiter nachdachte. Die liebenswürdige, stets um ihn besorgte Schwester. Hörbar stieß er die Luft aus. Er hasste es, auf ihre Hilfe angewiesen zu sein, beinahe ebenso, wie er die undurchdringlichen Nebel verabscheute, die ihn von seiner eigenen Vergangenheit trennten.
Als er nun ihre Hand auf seiner Schulter spürte, fuhr er hoch. »Was hast du gesagt?«
Ihr leises Lachen erfüllte die schwülwarme Luft der Kammer. »Ich habe dich gefragt, ob du Lust hast, mit mir einen Spaziergang zum Garten zu machen, Bruder. Es ist wunderbar draußen, und die Bewegung wird dir guttun.«
Adam gestattete sich einen kurzen Seitenblick auf ihre schmale Gestalt. Das Gewand war Agnes ein wenig zu groß, weshalb der Ausschnitt einen Teil ihrer Schulterblätter freigab. »Wenn es sein muss.« Mit beiden Händen stützte er sich auf die Stuhllehnen, stemmte sich in die Höhe und griff nach dem Weidenstock, der ihm als Gehhilfe diente.
»Lass mich dir helfen, Adam!« Sie griff nach seinem Oberarm. Er schüttelte ihre Hand ab. »Ich kann das auch allein, verdammt!«
»Wie du willst.« Sie trat einen Schritt zur Seite. »Deshalb brauchst du nicht gleich so unfreundlich zu sein. Schließlich will ich dir nur …«
»Helfen, ja, ja, ich weiß«, giftete Adam.
Während sie die kleine Kammer verließen, hakte Cristin sich bei ihm unter. Als er bemerkte, wie sie versuchte, sich seinen Bewegungen anzupassen, verdüsterte sich seine Stimmung weiter. Im Freien empfing ihn warmer Sommerwind. Das Gehen fiel ihm schwer, aber er wollte verdammt sein, wenn er es ihr zeigen sollte. Die Lippen fest aufeinandergepresst, blickte er in den von wenigen Schäfchenwolken bedeckten Himmel über den Dächern der Bürgerhäuser und der Kirchturmspitze von St. Petri. Schwalben flogen zwischen den Obstbäumen hin und her, und die Abendsonne warf gleißende Lichtpunkte auf die Blätter. Der Hund, der ihm wie immer auf Schritt und Tritt folgte, hechelte.
»Geht es noch, Adam? Schau, hier hinter den Gemüsebeeten ist eine Bank, dort können wir uns setzen.«
Er murmelte etwas Unverständliches und lehnte sich schwer gegen seinen Stock. Die Luft verströmte den Duft
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