Die Goldspinnerin: Historischer Roman (German Edition)
aufsteigen. Wie hatte ihr Vater sie nur mit diesem, diesem … Hundsfott verheiraten können!
»Was ist dann geschehen?«, fragte er aufgebracht.
Agnes stockte und schien zu überlegen. »Du … du bist nach Wismar gekommen und hast ihm Prügel angedroht. Daraufhin hat er die Büttel gerufen und wollte dich in die Fronerei bringen lassen. Da sind wir geflohen. Wir wollten zurück nach Lübeck. Den Rest der Geschichte kennst du.«
»Das Wildschwein.« Er nickte gedankenverloren und wartete auf einen neuen Gedankenblitz, ein Bild, an dem er sich festhalten konnte. Doch nichts geschah.
Sie erhob sich von der Bettkante. Ihre Augen waren verschleiert, als hielte sie nur mit Mühe ihre Gefühle im Zaum. »Es wird bald hell«, meinte sie. »Lass uns noch ein wenig schlafen, Bruder.«
6
A n den kommenden Tagen sprach Baldo nur wenig. Manchmal, wenn er sich unbeobachtet fühlte, ertappte Cristin ihn dabei, wie er sie mit einer Mischung aus Neugier und Verwirrung musterte. Glaubte er ihr nicht? Oder was hatte dieser Schimmer in seinen Augen zu bedeuten? Sie hatte insgeheim gedacht, er würde sich nach dem Gespräch nun endlich entspannen, aber das Gegenteil traf zu. Die meiste Zeit war er abwesend und fuhr sogar bisweilen zusammen, wenn sie überraschend die Kammer betrat. Um seinen Mund hatte sich ein bitterer Zug eingegraben, und den dunklen Schatten unter den Augen nach zu urteilen, schlief er zu wenig. Er zog sich von ihr und der Welt zurück.
An einem verregneten Sommertag im Juni, sie waren inzwischen zwei Monate bei Ludewig, erschien ein Bauer im Behandlungszimmer, der seine ungefähr sechs Lenze alte Tochter auf dem Arm trug. Erregt erzählte der Mann, er habe zugesehen, wie das Kind plötzlich auf dem Feld in sich zusammengesackt war. Seither klage sie über Übelkeit und Schwindel. Die Hände des Bauern zitterten, als er seine Tochter auf dem Strohbett ablegte, das Ludewig ihm zugewiesen hatte.
Cristin beugte sich über das apathisch wirkende Mädchen und griff an seinen Hals, um den Puls zu ertasten. Er schlug viel zu schnell! »Kannst du mich hören, Kleine?«, fragte sie leise.
Das Mädchen gab keine Antwort, woraufhin Cristin dem Bader einen besorgten Blick zuwarf und sich erhob. Sie griff nach dem Arm des Bauern.
»Guter Mann, sorgt Euch nicht. Herr Stienberg wird Eurer Tochter helfen. Ich schlage vor, Ihr setzt Euch ein Weilchen.« Sanft, aber energisch führte sie den ängstlichen Mann in eine Kammer und reichte ihm einen Becher mit gewürztem Wein. »Wenn der Bader Eure Tochter untersucht hat, hole ich Euch«, beeilte sie sich zu versichern und ging schnellen Schrittes zurück ins Behandlungszimmer.
Das Mädchen war inzwischen ohnmächtig geworden. »Sieh dir die Flecken auf ihrer Haut an, Agnes«, brummte Stienberg und wies auf die Arme, während er sein Ohr an das Herz des Mädchens legte. Zwischen seinen Augen bildeten sich tiefe Falten. »Wir müssen versuchen, sie zu wecken. Schnell!« Schon sauste seine flache Hand auf die Wange des Kindes hernieder, die sich sofort verfärbte. Keine Reaktion.
Bei der nächsten Ohrfeige zuckte Cristin zusammen. Diese Wucht hätte einen Ochsen zum Leben erweckt! Die Lider der Patientin flatterten.
»Deern, hörst du mich?«
Der Blick des Mädchens war verschleiert, aber es nickte.
Cristin strich ihr über die Wange.
»Mir ist schwindelig«, flüsterte das Kind. »Ich … ich bin so müde.« Erneut fielen ihr die Augen zu.
»Was ist mit ihr geschehen, Ludewig?«
Der Bader antwortete nicht und holte stattdessen sein Besteck für den Aderlass hervor. »Weiß nicht. Könnt eine Vergiftung sein.«
Cristin betrachtete das bleiche, entrückte Gesicht des Mädchens und sah zu, wie Ludewig nach einer Fliete griff und das kleine, aber scharfe Messer am Unterarm des Kindes ansetzte. Schnell wandte sie den Kopf ab. »Ich rede mit dem Vater.«
»Gut, Agnes. Aber beeil dich.«
Fluchtartig verließ sie den Raum und lehnte einen Moment lang den Kopf gegen die Wand. Wenn du Ludewig eine gute Gehilfin sein willst, darfst du dich nicht so anstellen, rügte sie sich. Reiß dich zusammen. Aber wie sollte das gehen, wenn sie jedes Mal beim Anblick des Blutes eine Welle der Übelkeit überfiel?
Sie stieß sich von der Wand ab und schritt auf die Kammer zu, wo der hilflose Vater saß und wartete. Mit ruhiger Stimme beantwortete sie die Fragen des besorgten Mannes.
»Habt Vertrauen, Herr Stienberg wird für Eure Tochter tun, was er kann. Bitte geht jetzt nach
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