Die Goldspinnerin: Historischer Roman (German Edition)
ist tückisch, aber sollte sie die nächste Nacht überstehen, hat sie das Schlimmste hinter sich. Das Mädchen ist jung und stark – und entsetzlich dumm.« Er sah sie an. »Die Kleine muss die Beeren gedankenlos gegessen haben. Hat der Vater ihr denn nicht erklärt, dass sie das nicht darf?« Sein Blick wanderte zurück zu dem schlafenden Kind. »Unser Friedhelm hat damals Schelte bekommen, wenn er auch nur die Finger nach Beeren oder Früchten ausgestreckt hat«, murmelte er.
Cristin sah, wie sich seine Miene verhärtete, und legte ihm eine Hand auf den Arm. »Ich bleibe heute Nacht bei ihr, Ludewig«, sagte sie. »Geht nur zur Ruhe.«
»Die Deern ist meine Patientin, Agnes! Kümmere dich gefälligst um deinen Bruder, der ist unleidlich genug. Außerdem kannst du für morgen noch die Bäder vorbereiten.«
Mit diesen Worten war sie entlassen. Stienberg tat, als bemerkte er sie nicht mehr, und wandte seine Aufmerksamkeit dem Mädchen zu.
Am folgenden Tag ging es der jungen Patientin besser. Der Ausschlag war schwächer geworden, und sie nahm sogar einige Schlucke der Brühe zu sich, die Cristin noch am Abend zubereitet hatte.
»Kann ich Euch etwas fragen?«, eröffnete sie das Gespräch, während Ludewig und sie den Behandlungsraum für den folgenden Tag vorbereiteten. Seit Längerem schon hatte sie nach einer Möglichkeit gesucht, mit dem Bader ungestört reden zu können.
»Was gibt es?« Ludewig sah auf.
»Welche Gifte töten einen erwachsenen Menschen innerhalb weniger Tage, von der Tollkirsche abgesehen?«
»Hmm … da gibt es einige. Weshalb willst du das wissen?« Er zwinkerte ihr zu. »Du willst doch wohl nicht unseren guten Adam ins Jenseits befördern, oder?«
Cristin lächelte. »Nein, natürlich nicht.« Sie zögerte. »Es hat keinen besonderen Grund, ich wüsste es nur gern.«
Der Bader nickte und setzte zu den ersten Erklärungen an. Bilsenkraut, das kannte sie ja bereits, war in hoher Dosis tödlich. Auch Stechapfel und Fingerhut gehörten dazu und viele andere mehr. »Mädel, jedes Gift wirkt anders. Manche verbreiten schleichend ihre Wirkung, andere sind kurz nach der Einnahme schon tödlich, wie der Schierling zum Beispiel.« Ludewig lachte laut, sodass sie versucht war, sich die Ohren zuzuhalten. »Wenn du nichts anderes vorhast, als dich um deinen nörgelnden Bruder zu kümmern, kann ich dir eine Menge darüber erzählen.«
Als sich Cristin an diesem Abend zur Ruhe begab, schwirrte ihr der Kopf von all den fremd klingenden Pflanzennamen, ihren Bedeutungen und dem Verlauf der Vergiftungen. Es gab sogar ein Gift, dessen tödliche Wirkung sich bereits entfaltete, wenn man ein paar Tropfen davon über eine Talglampe gab. Die Menschen starben im Schlaf. Die wenigsten Beispiele passten allerdings auf Lukas’ Todeskampf. Fingerhut zum Beispiel war bitter. Wenn jemand ihm dieses Gift ins Mahl oder in gewürzten Wein gegeben hätte, wäre es ihm aufgefallen. Ludewig hatte ihr berichtet, der Stechapfel führe zu Rauschzuständen. Das ergab auch keinen Sinn. Vermutlich bin ich auf der falschen Fährte, grübelte Cristin. Der Mörder wird sich ein wenig bekanntes Gift ausgesucht haben. Eins, welches im späten Lenz oder auch getrocknet wirksam ist. Eins, das leicht zu beschaffen ist. Der Gedanke ließ sie frösteln, und sie zog die Decke höher, bis der Schlaf sie schließlich übermannte.
7
I m Schein einer Talglampe saß Emmerik in seinem Sessel und kaute lustlos auf einem Knochen herum. Die Stille seiner Kammer lastete schwer auf ihm. Für einen flüchtigen Moment überlegte er, ob er noch einmal hinaus in die Stadt gehen sollte, um sich ein Bier zu genehmigen. Doch ihm stand nicht der Sinn nach Gesellschaft oder dem regen Treiben der dunklen Gassen von Lübeck, in denen es alles zu kaufen gab, was ein Mann ersehnte. Den Blick auf die Feuerstelle gerichtet, wanderten seine Gedanken zu seinem Sohn. Über zwei Monate waren inzwischen vergangen, ohne dass er ein Lebenszeichen von Baldo erhalten hatte. Gut, der Bengel war des Öfteren aufmüpfig gewesen, auch wenn er nie offen widersprach, aber einfach zu verschwinden, und dies offenbar noch mit einer verurteilten Mörderin, wie es hieß, sah ihm nicht ähnlich. In einem Moment wünschte Emmerik ihn zum Teufel und schwor sich, ihn windelweich zu prügeln, wenn er nach Hause kommen würde. Im nächsten ließ ihn die Sorge um Baldo nicht zur Ruhe kommen.
Niemand hatte den Jungen gesehen, er musste sich wie ein Geist in der Nacht aus dem
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