Die Goldspinnerin: Historischer Roman (German Edition)
Geruch mit sich trug. Das Grauen des Erlebten hallte noch in ihr nach, während sie versuchte, ihre Fassung wiederzuerlangen.
»Also, Mädchen, was wird das Schicksal mir bringen?«
Cristins Finger prickelten, als würde eine Schar Ameisen darüber hinweglaufen. Sie entzog dem Fremden die Hand und wischte sie unauffällig an ihrem Gewand ab. Fieberhaft suchte sie nach Worten, nach den üblichen Aussagen, mit denen sie ihre Kunden beglücken sollte, aber sie erinnerte sich an nichts. Alles, was sie sah, waren diese tief liegenden Augen und die Falten um seinen Mund, die von Freudlosigkeit zeugten.
»Nun? Was liest du in meinen Händen?«, fragte er mit lauerndem Unterton. »Lass mich nicht länger warten, meine Hübsche.«
Verzweiflung wallte in ihr auf. »Verzeiht. Das Bild, das ich sah … es war so stark. Bitte gebt mir einen Moment der Besinnung«, presste sie mühsam hervor, während sie innerlich um eine Eingabe flehte. »Gesundheit ist Euch beschieden, Herr«, stieß sie schließlich hervor. »Euer Geldbeutel wird stets gut gefüllt und Eure Lagerstatt von warmem Fleisch gewärmt sein. Doch hütet Euch vor dem bösen Blick, damit kein Unheil geschieht.«
Sie blinzelte. Die Worte waren ihr einfach so über die Lippen gekommen.
»So? Soll ich das?« Der Mann grinste. »Gut, ich werde auf der Hut sein.« Münzen klirrten, als er sie auf den Tisch legte. »Du hast mich gut unterhalten. Gott zum Gruß.«
Im Vorübergehen streifte er ihren Unterarm. Cristin schauderte.
»Komm heute Nacht zu mir, Mädchen, damit dein warmes Fleisch mich wärmt und ich sehen kann, ob du im Bett so viel taugst wie zum Spökenkieken.«
Sie blickte zu Boden, damit er das entrüstete Funkeln in ihren Augen nicht bemerkte. »Ich habe einen Gemahl, mein Herr.«
»Ach, wirklich? Wie schade.« Mit diesen Worten ging er hinaus.
Wie betäubt sank sie auf einen der Hocker. Luft, mein Gott, ich brauche Luft, dachte sie und wollte zum Ausgang stolpern, doch ihre Beine versagten ihr den Dienst. Sie bettete den Kopf in die Hände und atmete tief ein und aus. Wieder und wieder fragte sie sich, was die Bilder zu bedeuten haben mochten. Ein Schreck jagte ihr durch den Körper, Schweiß rann ihr in kleinen Rinnsalen den Rücken hinab. Ihre Gabe, anderen Menschen zuweilen ins Innere schauen zu können, war ihr vertraut. Aber dies hier war etwas anderes gewesen, denn der Fremde schien nicht leidend zu sein. Was sie erlebt hatte, war ein Blick in sein Leben, in seine Gedanken. Derartiges war ihr nie zuvor widerfahren. Abscheu stieg in ihr hoch. Dies musste Teufelswerk sein! Zitternd erhob sie sich, und ihr Blick fiel auf den Tisch. Fünf Witten lagen dort.
15
G egen Abend zogen Gewitterwolken heran und verdunkelten den vorher so strahlend blauen Himmel.
»Es wird bald regnen. Michel meinte, dann wird der Marktplatz wie leer gefegt sein, und wir müssen unsere Vorstellung abbrechen«, erklärte Baldo. Als Cristin nicht antwortete, sondern weiterhin gedankenverloren mit den langen Ketten spielte, knuffte er sie in die Seite. »Sag mal, hörst du mir eigentlich zu, Schwesterherz?«
»Entschuldige, hast du etwas gesagt?«
Baldo stemmte die Hände in die Hüften. Er legte den Kopf schief, betrachtete sie nachdenklich und vergaß für einen Moment seinen Vorsatz, ihr so weit wie möglich aus dem Weg zu gehen. »Was ist los, Mädchen? Fühlst du dich nicht wohl?«
Cristin straffte die Schultern und heftete den Blick auf einen Stand gegenüber, an dem eine Frau Würste verkaufte, die sie über glühender Holzkohle röstete. Ihr Mann bot Humpen mit Met dazu an. Von dem Tisch daneben stieg ihr der Duft von Spezereien aus fernen Ländern in die Nase, an einem dritten Stand pries ein Bauer lautstark seine Hühner und Enten an. Das Gackern und Schnattern des Federviehs vermischte sich mit dem Stimmengewirr der Marktschreier. Cristin hatte das Marktreiben mit seiner Geschäftigkeit, den bunten Auslagen und Gerüchen immer geliebt, doch heute konnte sie sich nicht daran erfreuen. Dieser Mann vorhin war zwar großzügig gewesen, aber sie hätte lieber auf das Geld verzichtet, als ihm begegnet zu sein. Das unflätige Wort, das ihr auf der Zunge lag, hatte sie nur mit Mühe unterdrückt. Glaubte er wirklich, sie würde ihm in sein Bett folgen? Warum nur hatte er diese Empfindungen und Bilder in ihr heraufbeschworen, die wie Fetzen eines Albtraums vor ihrem inneren Auge vorbeigezogen waren? Konnte dieser Mann in irgendeinem Zusammenhang zu ihr
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