Die Goldspinnerin: Historischer Roman (German Edition)
sagen. Es waren junge Leute, die sich nach Liebesdingen erkundigten, ebenso wie alte Bauern, die fragten, ob die nächste Ernte ihre Bäuche im Winter füllen würde, und Väter, die nach dem aussichtsreichsten Ehemann für die Tochter suchten. Sie hatte jede der Fragen aufs Beste und mit einem Lächeln beantwortet. Nur das, was wirklich wichtig gewesen wäre, konnte sie nicht aussprechen. Das alte Mütterchen zum Beispiel, das vorhin mit gebeugtem Rücken in ihr Zelt gekommen war, litt unter einem nicht verheilten Bruch am Fuß. Wie gern hätte sie der Armen geholfen, um ihre Schmerzen mit einer Salbe zu lindern. Oder die junge Frau mit dem Kleinkind im Arm. Cristin hatte gespürt, dass bereits ein zweites Kind in ihr wuchs. Doch dieses Wissen musste ihr Geheimnis bleiben.
Die Luft im Zelt war heiß und stickig. In der Hoffnung, es für eine kurze Weile verlassen zu können, um die Sommersonne zu genießen, steckte sie den Kopf aus der Zeltöffnung hinaus. Draußen stand ein stämmiger Mann in mittleren Jahren, bekleidet mit einem langen, dunklen Leibrock. In seinen schwarzen Haaren zeigten sich die ersten grauen Strähnen.
Seine dunklen Augen fuhren prüfend über ihre Gestalt. »Du bist eine Wahrsagerin?«
Sie nickte. »Für zwei Witten erfahrt Ihr Eure Zukunft, Herr! Kommt nur herein. Oder habt Ihr Angst vor dem, was Euch erwarten könnte?«
»Zwei Witten sind nicht viel, Mädchen«, erwiderte er, während er sich bückte und Cristin ins Innere des halbdunklen Zeltes folgte. Sie wies auf den zweiten Hocker, und der Mann setzte sich. »Was muss ich tun?«
»Zeigt mir Eure Handflächen«, antwortete Cristin. Der Mann streckte beide Hände aus, und sie beugte sich darüber. Groß waren sie und voller Schwielen, demnach musste er harte Arbeit gewohnt sein. Kurze, dunkel umränderte Fingernägel vervollständigten das Bild. Wohl ein Schmied oder Fleischhauer, dachte Cristin.
Sie hatte sich bald daran gewöhnt, von den Kunden beobachtet zu werden, doch die Augen dieses Mannes ruhten besonders abschätzig auf ihr. Ein Frösteln überlief ihren Leib, als sein Blick auf ihrem Busen verharrte. Während sie versuchte, ihn zu ignorieren, drang von draußen das heisere Brüllen des Bären an ihre Ohren. Die Schaulustigen applaudierten begeistert, und von irgendwoher erreichte sie der Duft frischgebackenen Brotes. Noch ein tiefer Atemzug, dann nahm sie die kräftigen Hände in ihre und schloss die Lider. Im selben Augenblick spürte sie es. Cristin fuhr zusammen, zwang sich aber, ihn nicht loszulassen. Eine bleierne Schwäche nahm von ihr Besitz und kroch von ihren Armen weiter aufwärts, so als würden die Hände des Fremden jedes Leben aus ihrem Körper ziehen. Sie öffnete die Lider.
»Was ist los, Mädchen? Sieht meine Zukunft so düster aus?«
»Nein, natürlich nicht, Herr«, erwiderte sie matt.
Die Zeltwände schienen plötzlich zusammenzurücken, dann verschwamm die Umgebung vor ihren Augen. Während alles um sie herum die Konturen verlor, wurden auch die Geräusche dumpfer. Seine Stimme wurde wie von einem unsichtbaren Nebel verschluckt, verstummte. Auf einmal lichtete sich Cristins Sicht. Ihre Füße standen auf festem Boden, um sie herum nahm sie schemenhaft mehrere bedrohlich wirkende Gestalten wahr. Sie sah an sich hinunter. Grober Stoff umhüllte ihren Leib, Wolle, die auf ihrer Haut kratzte. Mit beiden Händen umfasste sie einen schweren, kreisrunden Gegenstand, den sie jedoch mühelos stemmen konnte. Als sie die Arme hob, konnte sie kräftige, sehnige Unterarme erkennen. Das bin nicht ich , schrie es in ihr. Dies war nicht ihr Leib! Bestürzt kämpfte sie darum, sich von diesen schrecklichen Eindrücken zu befreien und wieder in ihren eigenen Körper zurückzukehren. Vergeblich. Es war dunkel, doch die mondlose Nacht war voller Töne und Empfindungen. Cristin horchte in sich hinein. In ihrem Herzen war tiefer Groll. Und Verbitterung. Eine eisige Kälte erfasste sie, die langsam in ihre Glieder kroch, bis jeder andere Gedanke in ihr ausgelöscht war. Sie vernahm ein leises Wimmern, gestammelte Worte, einen Atemhauch. Aber die Geräusche, die auf sie einwirkten, berührten sie nicht. Etwas Warmes rann an ihrer Hand hinunter und benetzte den sandigen Boden.
Schlagartig fand sie wieder zu sich. Ihr war schwindelig, und vor ihren Augen tanzten bunte Punkte. Cristin erkannte die Wände des Zeltes wieder, den kleinen Tisch und die Staubkörner in der flirrend heißen Luft, die auf einmal einen eigenartigen
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