Die Goldspinnerin: Historischer Roman (German Edition)
Gegenüber. ›Ich verstehe dich ja.‹ Ihre Stimme wurde sanft. ›Aber sei vernünftig. Sieh dich nur mal an. Man könnte meinen, der nächste Sturm würde dich umwehen, so dünn bist du geworden. ‹
Mama erzählte, jedes Wort der Frau hätte ihr einen Stich versetzt. In ihr tobten innere Kämpfe, für die sie viel später noch keine Namen fand. Mit einem Wimmern brach sie auf dem rauen Boden zusammen, den Kopf an deine Stirn geschmiegt. Lange Zeit sprach niemand ein Wort.
›Es mag für dich aussehen, als würde ich nur an mich denken, Sybil. Aber das ist nicht wahr.‹ Sie hob Mutters Kinn. ›Wie lange kennen wir uns schon? Ich beobachte dich seit geraumer Zeit, weißt du?‹
Mama weinte wie noch nie in ihrem Leben.
›Obwohl du bis zum Umfallen arbeitest, bleibt nicht genug für dich übrig. Du gibst mehr, als du bekommst. Dein Herz ist großmütig. Was machst du, wenn deine Milch versiegt? Ich kann dir helfen, verstehst du?‹
›Indem Ihr mir eins meiner Kinder nehmt?‹
›Indem ich für dich und die Kinder sorge, Sybil. Du wirst nie Not leiden, solange ich lebe.‹ Sie streichelte über Mamas zuckenden Rücken.
›Ich … ich kann das nicht. Sie ist – sie ist mein eigen Fleisch und Blut.‹
›Sie wird es gut haben bei uns. Keiner wird etwas davon erfahren. Darauf gebe ich dir mein Wort.‹
Die Frauen sahen einander an.
›Niemand könnte dir je dankbarer sein als ich. Mein Herzenswunsch … mein ganzes Sehnen. Bitte überlege. Ich hätte nicht noch einmal die Kraft, dich zu bitten.‹
Gesche Weber nahm Mutter in den Arm, und sie ließ es geschehen.
Lange Zeit hielten sie einander umfangen, bis Sybil sich schließlich schwankend und mit zuckendem Gesicht erhob und dir einen Kuss auf die Stirn hauchte. Wortlos legte sie dich der Älteren in den Arm.
›Geht, rasch! Bevor ich es mir anders überlege‹, stieß Sybil mit bebender Stimme hervor.
›Gott schütze dich‹, erwiderte Gesche. ›Du wirst es nicht bereuen.‹«
In dieser Nacht fand Cristin keinen Schlaf, denn die Geister der Vergangenheit sowie die folgenschweren Ereignisse, die mit Sybils Schwangerschaft begonnen hatten, spukten unaufhörlich in ihrem Kopf herum. Piets Erzählungen über diese Kräuterfrau erschienen ihr fremd, als hätten sie mit ihr nichts zu tun. Sie waren für Cristin nicht mehr als eines der Märchen, die Mutter ihr damals erzählt hatte, wenn sie kränkelte oder nicht einschlafen konnte. Mutter. Sie rollte sich auf die Seite und zog die Decke höher, obwohl es heiß und schwül war. Unmöglich, Piet musste auf der falschen Fährte sein. Dennoch, seine Geschichte nahm sie eigentümlich gefangen. Sybil musste verzweifelt gewesen sein, so ganz allein mit ihren Ängsten und der Gewissheit, bald mit zwei kleinen Kindern zurechtkommen zu müssen. Voller Dankbarkeit erinnerte Cristin sich daran, diese Nöte niemals gekannt zu haben – bis zu jenem Tag, an dem Lukas gestorben war. Ihre Eltern hatten sie wohl behütet, Armut oder gar Hunger war das Los der Bettler gewesen, die sie täglich in der Stadt gesehen hatte. Jeder Wunsch war ihr von den Augen abgelesen worden, Fröhlichkeit und Liebe hatten ihre Kindheit bestimmt. Cristin seufzte und kehrte mit den Gedanken zurück zu der geheimnisvollen Sybil …
In ihrem Kopf schwirrte es. Cristin presste eine Hand an die pochende Schläfe und wartete, bis der Schmerz verebbte. Noch immer meinte sie, in der Hütte den Geruch von Blut und Schweiß wahrnehmen zu können, von dem Piet erzählt hatte. Die Schreie der Neugeborenen und der heulende, durch alle Ritzen dringende Wind, von dem er berichtet hatte, klangen in ihr nach. Sie schloss die Lider und kämpfte gegen den Impuls an, aufzustehen und umherzuwandern. Nur allmählich fand sie in die Wirklichkeit zurück. Und mit ihr kamen Fragen und Zweifel. Waren diese Kinder wirklich Piet und sie gewesen? Das ergab alles keinen Sinn.
Ihre Mutter, Gesche Weber, war die einzige, an die sie sich erinnern konnte. Sie war es gewesen, die sie getröstet hatte, wenn sie traurig oder krank war. Sie war es, die sie alles gelehrt hatte, was eine wohlerzogene Tochter wissen musste. Trotzdem – wenn Piets Geschichte stimmte, musste sie die Wahrheit herausfinden.
Der Schmerz in ihrem Innern nahm Cristin den Atem, und sie war wie betäubt. War ihr Leben wirklich eine einzige Lüge gewesen? Etwas bäumte sich in ihr auf, wollte sich wehren gegen die Bilder der Vergangenheit, die während Piets Schilderungen in ihr aufgetaucht
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