Die Graefin Charny
verlierst Deine Zeit, Gilbert: in diesem Augenblicke hören der König und die Königin den Herrn von Breteuil, der soeben von Wien kommt und ihnen folgenden politischen Plan mitbringt:
»Gegen Barnave dasselbe Benehmen beobachten wie gegen Mirabeau; Zeit gewinnen, die Verfassung beschwören und buchstäblich ausführen, um zu zeigen, daß sie unausführbar ist. Frankreich wird lau werden und sich langweilen; die Franzosen sind leichtfertig, es wird eine neue Mode aufkommen, und die Freiheit vergessen werden. Wenn die Freiheit nicht vergessen wird, so kann wenigstens ein Jahr gewonnen werden, und in einem Jahre sind wir zum Kriege gerüstet.«
»Laß daher die beiden Verblendeten, die noch spottweise König und Königin genannt werden, und begib Dich in das Hospital am Gros-Caillou. Du wirft daselbst einen Sterbenden finden, der vielleicht noch zu retten ist; sie hingegen kannst Du nicht mehr retten, sie würden Dich in ihrem Sturz nur mit fortreißen!«
Das Billett war nicht unterzeichnet; aber Gilbert erkannte die Handschrift Cagliostros.
In diesem Augenblicke kam Madame Campan; Gilbert gab der Kammerfrau den Brief, den er eben erhalten hatte. Inzwischen kam der Tag, wo der König die Verfassung beschwören sollte.
England und die Ausgewanderten hatten dem König geschrieben: »Sterben Sie, wenn es sein muß; aber erniedrigen Sie sich nicht durch diesen Schwur!«
Leopold und Barnave sagten: »Schwören Sie immerhin; das weitere wird sich finden.«
Endlich entschied der König die Frage durch folgende Worte: »Ich erkläre, daß ich in der Verfassung keineswegs eine genügende Gewähr der Kraft und Einheit sehe; aber da die Meinungen so verschieden sind, so möge allein die Erfahrung entscheiden.«
Es fragte sich noch, an welchem Orte die Verfassung dem Könige zur Annahme vorgelegt werden sollte, ob in den Tuilerien oder in der Nationalversammlung.
Der König löste die Schwierigkeit durch die Erklärung, daß er die Verfassung da beschwören werde, wo sie votiert worden. – Er bestimmte zu dieser Feierlichkeit den 13. September.
Die Nationalversammlung empfing diese Mitteilung mit einstimmigem Beifall. Der König wollte zu den Volksvertretern kommen! – In einer Regung der Begeisterung erhob sich Lafayette und verlangte eine allgemeine Amnestie für die, welche die Flucht des Königs befördert hatten. – Die Amnestie wurde sogleich votiert.
Die Wolke, die den Himmel Charnys und Andreas verdunkelt hatte, zerstreute sich schnell.
Eine Deputation von sechzig Mitgliedern wurde ernannt, um dem Könige für sein Schreiben zu danken. – Der Siegelbewahrer stand auf und eilte in die Tuilerien, um dem Könige diese Deputation zu melden.
An demselben Vormittag hatte ein Beschluß der Nationalversammlung den Orden vom heiligen Geiste abgeschafft, und der König allein blieb ermächtigt, das Ordensband als Sinnbild der hohen Aristokratie zu tragen. Die Deputation fand den König nur mit dem Ludwigskreuz geschmückt; er bemerkte den Eindruck, den die Abwesenheit des blauen Bandes auf die Deputierten machte, und sagte zu ihnen:
»Meine Herren, Sie haben heute den Orden vom heiligen Geist abgeschafft und mir allein das Recht vorbehalten, das Ordensband zu tragen; ich betrachte ihn aber als aufgehoben.«
Malouet war Präsident der Nationalversammlung; er war ein Royalist von reinstem Wasser, aber er glaubte die Frage aufwerfen zu müssen, ob die Nationalversammlung sitzen oder stehen sollte, während der König den Eid leisten würde.
»Sitzen! sitzen!« rief man von allen Seiten.
»Und der König?« fragte Malouet.
»Stehend und mit entblößtem Haupte schwören!« rief eine Stimme.
Es war eine vereinzelte Stimme, aber sie war stark und klangvoll; man glaubte die Stimme des Volkes zu hören, die sich vereinzelt vernehmen läßt, um besser verstanden zu werden.
Der Präsident erblaßte.
»Meine Herren,« sagte er, »die versammelte Nation hat den König unter allen Umständen als ihr Oberhaupt anzuerkennen. Wenn der König den Eid stehend leistet, so beantrage ich, daß die Versammlung ebenfalls aufstehe.«
Die Eidesleistung war auf den folgenden Tag angesetzt. Der Saal war überfüllt; die Tribünen vermochten die Zuschauer nicht zu fassen. – Um die Mittagsstunde wurde der König gemeldet.
Der König sprach die Eidesleistung stehend; die Versammlung hörte ihn stehend an; dann wurde die Verfassungsurkunde unterzeichnet und alle setzten sich.
Der Präsident stand nun auf, um seine Rede zu halten;
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