Die Graefin Charny
acht, das Maß ist voll, und das Volk will nicht länger Ihr Spielball und Ihr Opfer sein.«
»Reden Sie, ich höre«, sagte der König.
»Gut, Sie wissen, was wir hier wollen: wir sind gekommen, um die Bestätigung der Dekrete und die Zurückberufung der Minister zu erwirken ... Hier ist unsere Petition.«
Der König sah den Vorleser scharf an, und als die Petition abgelesen war, sagte er mit wenigstens scheinbarer Ruhe:
»Ich werde tun, was mir Gesetz und Verfassung vorschreiben.«
»Ja, ja,« sagte eine Stimme, »das ist dein Paradepferd ... die Verfassung!«
Der König sah sich um in der Richtung, aus der diese Stimme kam, auch Gilbert machte eine Bewegung und legte die Hand auf die Schulter des Mannes, der gesprochen hatte.
»Ich habe Sie schon einmal gesehen, mein Freund,« sagte der König, »wer sind Sie?«
»Ja, Sire, Sie haben mich schon dreimal gesehen: einmal am 16. Juli bei der Rückkehr von Versailles, einmal zu Varennes und einmal hier ... Erinnern Sie sich noch meines Namens, Sire? Er hat eine üble Vorbedeutung; ich heiße Billot!«
In diesem Augenblick wurde der Tumult wieder stärker, ein Mann stach mit einer Pike nach dem Könige. Aber Billot faßte die Pike, entriß sie dem Meuchler und zerbrach sie auf dem Knie.
»Kein Mord,« sagte er zürnend, »nur das Gesetz hat das Recht, diesen Mann zu richten! Dieser Mann wird als Verräter vor Gericht gestellt und verurteilt werden.«
»Ja, Verräter! Verräter!« riefen hundert Stimmen.
Gilbert trat zwischen den König und das andrängende Volk, »Fürchten Sie nichts, Sire,« sagte er, »und suchen Sie diese Wütenden durch irgendeine handgreifliche Demonstration zufriedenzustellen.«
Ludwig XVI. trat vor, nahm einem Sansculotte die rote Mütze vom Kopf und setzte sie auf.
Die Menge brach in lauten Beifall aus.
»Es lebe der König! Es lebe die Nation!« riefen alle einstimmig.
»Sire,« sagte Gilbert, »Sie haben nichts mehr zu fürchten. Erlauben Sie, daß ich mich wieder zur Königin begebe.«
»Gehen Sie«, sagte Ludwig XVI. und drückte ihm die Hand.
Um zur Königin zu gelangen, mußte Gilbert durch mehrere Zimmer, unter andern auch durch das Gemach des Königs gehen. – Alle Räume waren voller Menschen.
Einige Sansculotten hatten sich's in den weichgepolsterten Armsesseln bequem gemacht, andere wälzten sich lachend auf Sofas und Betten und verglichen die schwellenden Polster mit ihren harten Bänken und Strohstühlen.
All dies war nicht mehr beunruhigend, die erste Aufwallung war vorüber. Gilbert kam um vieles ruhiger zur Königin.
Marie Antoinette stand noch an derselben Stelle, der kleine Dauphin hatte, wie sein Vater, eine rote Mütze auf dem Kopfe.
Im Nebenzimmer entstand plötzlich ein großer Lärm. Gilbert sah sich nach der Tür um. Den Lärm machte Santerre. Der Koloß kam in den Saal.
»Oho!« sagte er; »die Österreicherin ist also hier!«
Gilbert ging gerade auf ihn zu.
»Herr Santerre!« sagte er.
»Ei, sieh da, der Doktor Gilbert!«
»Der nicht vergessen hat,« erwiderte dieser, »daß Sie einer von denen sind, die ihm die Türen der Bastille geöffnet haben .... Erlauben Sie, Herr Santerre, daß ich Sie der Königin vorstelle.«
»Der Königin? ... Sie wollen mich der Königin vorstellen!« murrte der Fleischer.
»Jawohl; Sie lehnen es doch nicht ab?«
»Gott bewahre,« sagte Santerre; »ich wollte mich selbst vorstellen; aber da Sie einmal hier sind ...«
»Ich kenne Herrn Santerre,« sagte die Königin; »ich weiß, daß er in der großen Teuerung die Hälfte der Vorstadt Sankt Antoine mit Lebensmitteln versorgt hat.«
Santerre blieb erstaunt vor der Königin stehen. Sein Blick fiel auf den Dauphin, dem der Schweiß in dicken Tropfen über die Wangen floß.
»Nehmt dem Kleinen doch die Mütze ab,« sagte er zu den Vorstädtern, »ihr seht ja, daß er erstickt.«
Die Königin dankte ihm mit einem Blick.
»Madame,« sagte der brave Flamländer halblaut über den Tisch hinüber, »Sie haben sehr ungeschickte Freunde; ich kenne welche, die Ihnen besser dienen würden.«
Eine Stunde nachher hatte sich die ganze Menschenmasse zerstreut, und der König erschien in Begleitung seiner Schwester in dem Zimmer, wo ihn die Königin und die Kinder erwarteten.
Die Königin fiel ihm zu Füßen, die beiden Kinder faßten seine Hände, man sank sich in die Arme wie nach einem Schiffbruch.
Erst jetzt bemerkte der König, daß er die rote Mütze noch auf dem Kopfe hatte.
»Ach! ich hatte es ganz
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