Die Graefin Charny
lange besinnen durfte er sich auch nicht. Er glitt die Böschung hinab und verschwand in dem sieben bis acht Fuß tiefen Graben; hier versteckte er sich unter den Wurzeln des Weidenbaumes, an den sich Billot lehnte.
Eine Viertelstunde verfloß, ohne daß die Stille der Nacht unterbrochen wurde.
Aber plötzlich glaubte Pitou den Galopp eines Pferdes zu hören. Dieses Pferd lief in einer Entfernung von etwa sechzig Schritten über den Weg; man hörte Hufschläge und konnte Funken aufsprühen sehen.
Pitou sah, wie sich der Pächter nach vorn neigte, um in der Dunkelheit besser sehen zu können. Aber die Nacht war so finster, daß selbst Pitous Auge nur eine formlose Masse sah, die vorüberjagte und hinter der Hofmauer verschwand.
Pitou zweifelte nun nicht mehr, daß es Isidor sei; aber er hoffte, der Vicomte werde nicht durchs Fenster, sondern auf einem andern Wege ins Haus zu gelangen suchen.
Billot fürchtete es, denn er murmelte einige Worte, die wie ein Fluch klangen.
Dann folgte eine zehn Minuten lange furchtbare Stille. Endlich bemerkte Pitou am äußersten Ende der Mauer eine menschliche Gestalt. Die Nacht war so finster, daß Pitou hoffte, Billot werde die Gestalt gar nicht sehen. Er irrte sich: Billot sah sie, denn Pitou hörte, daß er den Hahn spannte.
Der Mann, der sich an der Mauer hinschlich, schien dieses Geräusch, welches das Ohr eines Jägers so leicht erkennt, ebenfalls zu hören, denn er blieb stehen.
Während jener stillstand und lauschte, sah Pitou den Gewehrlauf plötzlich in horizontaler Richtung über seinem Kopfe schweben; aber Billot mochte die Entfernung wohl für zu groß halten, denn der Gewehrlauf, der sich rasch gehoben hatte, senkte sich langsam.
Die Gestalt schlich weiter und ging immer an der Mauer entlang auf Katharinens Fenster zu.
Pitou konnte hören, wie dem Pächter das Herz schlug.
Der Gewehrlauf hob sich zum zweiten Male, aber nach wenigen Augenblicken senkte er sich wieder.
Inzwischen war der junge Mann an das Fenster gekommen. Er klopfte dreimal leise an.
Der Gewehrlauf hob sich zum dritten Male, während Katharina, die das gewohnte Zeichen erkannte, ihr Fenster leise öffnete.
In atemloser Spannung erwartete Pitou den Schuß; er hörte, wie der Stein gegen den Pfannendeckel schlug ... ein Blitz flammte auf, aber kein Knall erfolgte. Nur das Pulver in der Pfanne hatte sich entzündet.
Der Vicomte sah die Gefahr, an der er vorübergegangen war, und machte eine Bewegung, um gerade auf das Feuer loszugehen, aber Katharina streckte die Arme aus und zog ihn an sich.
»Unglücklicher!« sagte sie leise, »es ist mein Vater! ... Er weiß alles ... Komm!«
Sie bot alle ihre Kraft auf und zog ihn durchs Fenster. Als er in der Kammer war, zog sie den Fensterladen zu.
Fünf Minuten lang herrschte tiefe Stille,– Pitou und Billot schienen nicht zu atmen, ihr Herzschlag schien auszusetzen.
Plötzlich begannen die Kettenhunde auf dem Meierhofe laut zu bellen.
Billot stampfte mit dem Fuße auf, lauschte noch einen Augenblick und sagte mit Ingrimm:
»Ha! sie läßt ihn durch den Baumgarten entwischen!«
Er sprang über Pitous Kopf hinweg auf die andere Seite des Grabens, lief auf den Meierhof zu und war in wenigen Augenblicken hinter der Mauerecke verschwunden.
Pitou erriet seine Absicht. Sein Entschluß war schnell gefaßt: er sprang aus dem Graben, lief gerade auf Katharinens Fenster zu, riß den Laden auf und schwang sich durch das Fenster. Das Zimmer war leer, in der Küche brannte eine Lampe. Pitou, der jeden Winkel des Hauses kannte, eilte hinaus ... in den Baumgarten. Sein scharfes Auge, das die tiefste Finsternis durchdrang, sah zwei Gestalten: die eine war eben im Begriff, über die Mauer zu steigen, die andere stand unten und streckte die Arme aus.
Aber bevor der junge Mann hinübersprang, sah er sich noch einmal um.
»Auf Wiedersehen, Katharina!« sagte er. »Vergiß nicht, daß du mein bist!«
»Ja, ja, ja!« antwortete die schöne Pächterstochter; »aber um Gottes willen fort ... fort!«
»Ja, fort, Junker Isidor!« rief Pitou. »Es ist kein Augenblick zu verlieren!«
Man hörte den dumpfen Fall außerhalb der Gartenmauer, dann das Wiehern des Pferdes, das seinen Herrn erkannte, die raschen Hufschläge des Tieres, das vermutlich die Sporen des Reiters fühlte, dann einen Schuß ... und gleich darauf noch einen.
Als der erste Schuß fiel, schrie Katharina laut auf und machte eine Bewegung, als ob sie dem Vicomte zu Hilfe eilen wollte; der zweite
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