Die Graefin der Woelfe
den Weg. Sie bestürmte die Amme, die singend in der Kammer stand und Wäsche faltete. »Du darfst nicht fortgehen, noch nicht. Du musst an die Komtess denken.«
»Da irrst du, Lucia!« Svetlanas Stimme klang schneidend. »Ich muss nur an meinen Josef denken – und an mich. An kein anderes Kind muss ich denken. Sie haben genügend Geld. Sie werden schon eine Lösung finden. Ich kann nichts dafür, dass die Gräfin überall als Hexe gilt. Ich habe nicht viele Gelegenheiten in meinem Leben, Lucia. Das ist die erste wirklich Gute. Die lasse ich mir von niemandem nehmen.«
Lucia war unwillkürlich einen Schritt zurückgetreten. So etwas hatte sie hinter dem schüchternen Mädchen nicht erwartet. Gleichzeitig musste sie eingestehen, dass sie selbst nicht anders handeln würde. Auch sie würde alles für ihren Sohn tun. So war eben der Lauf der Welt. »Ich wünsche dir Glück«, murmelte sie resigniert und eilte zurück zu Jelko, den sie aufforderte, die Hebamme zu rufen.
8. Kapitel
Winter/Frühjahr 1726
E rasmus beobachtete die Gräfin im Spiel mit der kleinen Elena, der Tochter seines Freundes. Was er sah, war nicht dazu angetan, ihn zu beruhigen. Im Gegenteil, das laute Treiben zwischen Mutter und Tochter weckte böse Vorahnungen, weil er sich sowohl für die Gräfin als auch für Graf Wenzels Tochter verantwortlich fühlte.
Erasmus hatte in den vergangenen Tagen und Wochen alle Regeln seiner Kunst angewandt, um seine Patientin von ihrem Leiden zu befreien. Allein, außer dem Trunk aus Mohnsamen zeigte keine seiner Arzneien die erwartete Wirkung. Egal was er tat, und welche Heilmethode er auch einsetzte, ihr Zustand verbesserte sich nicht. Sie verfiel ihm vor den Augen. Sie aß immer weniger und behielt das Gegessene oft nicht mehr bei sich. Insbesondere dann, das hatte er getestet, wenn es mit bestimmten Gewürzen behandelt war. Vor allem Lauch, Zwiebeln und Knoblauch verursachten ihr Übelkeit. Ein weiteres Indiz, das seine Vermutung stützte und das er nicht übersehen durfte.
Die Gräfin, die soeben noch beinahe apathisch in ihrem Bett gelegen hatte, war nun aufgestanden und alberte mit ihrer Tochter auf dem Boden herum. Das Kind verfing sich in ihren Röcken und beide lachten übermütig und wenig schamhaft. Die Szenerie wirkte unheimlich. Die Gräfin richtete sich auf, rückte ihre Perücke zurecht und wischte sich über die schweißnasse Stirn. Dann winkte sie der Magd, die das Kind aufhob und aus dem Raum trug. Kaum war Elena außer Blickweite, ließ sich die Gräfin ermattet auf ihre Chaiselongue sinken. Alle Kraft schien sie verlassen zu haben, als wäre das Kind ein Jungbrunnen für die geschwächte Frau, der augenblicklich versiegte, sobald es aus ihrer Nähe entfernt wurde. Erasmus machte sich Sorgen. Nicht nur um seine Patientin, von der er nicht wusste, ob sie durch den Umgang mit dem Kinde nun Kraft bekam oder eher verlor, sondern auch um das Kind seines toten Freundes. Woher kam die Vitalität, die die Gräfin jedes Mal erfüllte, wenn sie das Kind sah? Konnte Elena Schaden nehmen durch den Umgang mit ihrer Mutter? Erasmus fühlte die Last der Verantwortung auf den Schultern. Er durfte keinen Fehler machen, nicht zulassen, dass dem Kind oder der Gräfin ein Leid zugefügt wurde.
*
Die Zeit, die sie mit Elena verbrachte, war ihr die kostbarste des Tages und mit Entsetzen spürte Amalia, dass sie immer schneller ermüdete und das Kind immer früher der Amme zurückgeben musste. Diesmal war die Amme nicht da gewesen, was seltsam war. Doch Amalia war zu müde, um sich weiter mit dem Gedanken zu befassen. Sie sank auf ihre Liegestatt und versuchte, der Trauer zu entgehen, die in jeder Ecke des Zimmers auf sie wartete. Es war die Trauer um ihren Mann und um ihren Freund. Selbst um ihren Vater trauerte sie, dessen Verlust schon so viele Jahre zurücklag, und den sie heute deutlicher spürte als jemals zuvor. Immer tiefer zog sie sich hinter den Vorhang ihres Selbst zurück. Sie aß wenig, trank nur noch von dem blutroten Wein und rauchte Tabakpfeifen, deren Rauch sie inhalierte, um den beständigen Druck auf ihrer Lunge loszuwerden. Die Schmerzen überfielen sie in unterschiedlichen Abständen. Sie kamen aus finsterem Himmel, rissen sie hinab in Dunkelheit und hielten sie in ihren Fängen. Einzig der Gedanke an Elena gab ihr die Stärke, die sie brauchte, um den Verlockungen der Finsternis zu entkommen. Nur um ihretwegen stellte sie sich dem Leben, das ihr immer schwerer
Weitere Kostenlose Bücher