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Die Grasharfe

Titel: Die Grasharfe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Truman Capote
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Rathausuhr hatte elf geschlagen, und das hieß, es war zehn Uhr dreißig, also schon weit in der Nacht für eine Stadt, deren achtbare Haustüren um neun Uhr zugesperrt werden; es schien noch später, weil im Nebenzimmer Verena ihre Bücher bereits geschlossen hatte und zu Bett gegangen war. Wir nahmen uns eine Petroleumlampe aus der Wäschekammer und stiegen bei ihrem schwankenden Licht auf Zehenspitzen die Leiter zum Dachboden empor. Es war kalt da oben; wir stellten die Lampe auf ein Faß und hielten uns in ihrer Nähe, als sei sie ein Herdfeuer. Mit Sägemehl gefüllte Köpfe, die einmal beim Verkauf von St. Louis-Hüten mitgeholfen hatten, sahen uns zu, während wir herumsuchten; wo immer wir etwas mit unseren Händen anrührten, schienen zarte Füße gekränkt fortzueilen. Herunterstürzend rollten klappernde Mottenkugeln aus einer Schachtel über den Boden. „O je, o je", rief Dolly kichernd, „wenn Verena das hört, holt sie den Sherif."
       Wir trieben zahllose Pinsel auf; die Farbe, die wir unter einem Wirrwarr von längst vertrockneten Festtagsgirlanden entdeckten, entpuppte sich als Goldfarbe und nicht als Silberfarbe. „Das ist natürlich viel schöner, nicht? Gold, das ist das Wahre. Aber schau nur, was ich noch gefunden habe." Es war eine Schuhschachtel, die mit Bindfaden verschnürt war. „Meine Kostbarkeiten", rief sie entzückt und öffnete die Schachtel unter der Lampe. Eine leere Honigwabe wurde gegen das Licht gehalten, ein Hornissennest und eine mit Gewürznelken besteckte Orange, die mit den Jahren ihr Aroma verloren hatte. Sie zeigte mir ein Eichelhäherei von vollendetem Blau, das in einer Wiege von Watte lag.
       „Ich hatte zu strenge Grundsätze. Darum hat es Catherine für mich gestohlen, es war ihr Weihnachtsgeschenk." Sie lächelte; ihr Gesicht zuckte, es schwebte wie eine Motte um den Lampenzylinder, wie eine wagemutige, eine todsüchtige Motte. „Charlie sagte: Liebe ist eine Kette von Liebe. Ich hoffe, du hast ihm zugehört und ihn verstanden. Denn wenn du eines lieben kannst", sie hielt das blaue Ei wie etwas Unschätzbares, so wie damals der Richter das Blatt gehalten hatte, „dann kannst du auch ein anderes lieben, und das ist dann dein Eigentum, das ist etwas, mit dem du leben kannst. Du kannst alles verzeihen. Ach ja", seufzte sie, „wir haben dich ja noch nicht angemalt. Ich möchte Catherine überraschen; wir wollen ihr sagen, daß die Wichtelmänner dein Kostüm fertiggemacht haben, während wir schliefen. Sie wird wütend sein."
       Wieder ließ die Rathausuhr ihre Botschaf herabschweben, jeder Schlag wie ein wehendes Banner über der fröstelnden, schlafenden Stadt. „Ich weiß, daß es kitzelt", sagte sie und zeichnete die Rippen auf meine Brust. „Aber ich werde alles verpatzen, wenn du nicht still hältst." Sie tauchte den Pinsel ein und ließ ihn leicht an meinen Ärmeln und an den Hosenbeinen entlanggleiten, um die goldenen Knochen an Armen und Beinen zu malen. „Du mußt dir alle Komplimente merken, die man dir macht, es werden viele sein", murmelte sie, als sie fast unbescheiden ihr Werk überprüfte. „Oh, mein Lieber, mein lieber …" sie bog sich in einem Gelächter, das in den Dachsparren widerhallte. „Merkst du es …"
       Denn ich war nicht ungleich dem Manne, der sich selbst an die Wand gemalt hatte. Ich saß, vorn und hinten frisch vergoldet, in dem Kostüm wie in einer Falle, in einer schönen Klemme, aus der ich ihr mit dem Zeigefnger drohte.
       „Du mußt dich schnell drehen", neckte sie mich, „das Wirbeln macht dich trocken." Sie breitete ihre Arme glückselig aus und drehte sich in langsamen seltsamen Kreisen durch die Schatten des Dachbodens, ihr glatter Kimono blähte sich, ihre dünnen Füße schlotterten in den Pantofeln. Es war, als habe sie sich mit einem Tanzpartner vereint. Sie strauchelte, eine Hand auf der Stirne, eine Hand auf dem Herzen. In der Ferne, am Horizont aller Geräusche ertönte der heulende Pff einer Lokomotive; er erweckte mich so weit, daß ich die Bestürzung sah, die ihre Augen hervortreten ließ, und die Krämpfe, die ihr Gesicht durchzuckten. Mit meinen Armen um sie, mit der noch frischen Malerei, deren Muster sich auf ihr abdrückte, rief ich Verena: „Zu Hilfe! Irgendeiner!"
       Dolly füsterte: „Pscht, pscht, still!"
       Häuser kündigen zur Nachtzeit eine Katastrophe durch eine plötzliche, erbarmungslose Lichtfut an. Catherine schlurfte von Zimmer zu Zimmer und schaltete

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