Die Grenze
er gelacht hatte, als die gefesselte Kreatur ärgerlich nach den Wurfgeschossen schnappte.
»Wenn Ihr der Mörder unseres Bruders seid«, sagte er, »wie ich glaube, dann wird Euch die Strafe bald ereilen. Graf Brone hat recht — Südmark hat immer noch einen Scharfrichter.«
Shaso machte eine wegwerfende Handbewegung. Das Kinn sank ihm auf die Brust, als ob er zu erschöpft wäre, den Kopf noch länger hochzuhalten.
»Ist das Euer letztes Wort?« fragte Briony. »Daß Ihr Kendrick nichts getan habt, daß das Blut an Eurem Dolch Euer eigenes war, daß Ihr aber nicht sagen wollt, wie es dorthin kam?«
Der alte Mann sah nicht auf. »Das ist mein letztes Wort.«
Als Barrick seiner Schwester zur Tür hinaus folgte, überlegte er, ob eine so verrückte Geschichte wahr sein konnte. Aber wenn ja, dann war der Wahrheit selbst nicht mehr zu trauen, denn es gab keine andere Erklärung für Kendricks Tod, keinen anderen Verdächtigen als Shaso. Das ausgenommen war alles Schattendunkel, so trügerisch und unverläßlich wie der schlimmste seiner Fieberträume.
Er muß der Mörder sein,
sagte sich Barrick. Sonst war die Vernunft selbst im Wanken.
Ferras Vansen musterte die Reihe der Männer, als wären sie jetzt erst aufgetauchte Familienmitglieder, und das waren sie ja in gewisser Weise auch. Sie würden Wochen oder gar Monate zusammenleben, in die Wildnis ziehen, und selbst in einer Familie erwuchs keine größere Verbundenheit als in einem Trupp Soldaten — und manchmal auch keine größere Verachtung. Sie waren insgesamt nur eine halbe Fünfzigschaft — alles, was darüber läge, würde zu viel Aufsehen erregen —, und ihr kleiner Trupp verlor sich nicht nur unter dem hohen Wolfszahnturm, sondern auch auf dem weiten Appellplatz der Kasernen. Vansens Aufgebot umfaßte sieben Reiter, ihn selbst eingeschlossen, und anderthalb Dutzend Fußsoldaten, darunter zwei ganz frische Männer, kaum mehr als Bauernjungen, die für den Eselskarren zuständig sein sollten. Aus Rücksicht auf seinen Leutnant Jem Fetter, der in seiner Abwesenheit die Festungswache kommandieren würde und tüchtige, vernünftige Männer brauchte, hatte Vansen seinen Trupp absichtlich so zusammengestellt, daß die Hälfte davon jung und unerfahren war. Es waren keine zehn Mann darunter, denen Vansen im Ernstfall wirklich traute: Er hoffte, daß das genug sein würden.
Raemon Beck hatte ein Pferd und ein Schwert erhalten und ging mit beidem um wie der Kaufmannsneffe, der er nun einmal war. Vansen hatte erwogen, den jungen Mann auch mit einem Panzerkleid zu versehen, aber die eigene Erfahrung bei einem Zug gegen räuberische Horden vor drei Jahren hatte ihn gelehrt, daß ein Mann, der eine so schwere Ausrüstung nicht gewohnt war, selbst zu Pferde für die anderen eher eine Behinderung darstellte. Er würde den Burschen in seiner Nähe behalten, wo er und der alte Hase Collum Saddler über ihn wachen konnten; das würde der beste Schutz für ihn sein.
»Schaut nicht so finster drein«, erklärte er Beck. »Euer Handelszug wurde unerwartet überfallen, und nur die Götter wissen, wie es um die Tüchtigkeit der Soldaten, die Ihr bei Euch hattet, bestellt war. Jetzt reitet Ihr mit einer halben Fünfzigschaft tapferer Soldaten der königlichen Garde von Südmark, die gutenteils schon in Krace und gegen die letzten Grauen Scharen gekämpft haben. Die werden nicht vor Schatten davonrennen.«
»Dann sind sie Toren.« Beck war blaß, und sein Mund zitterte leicht beim Sprechen, aber er hatte sich seit der Audienz beim Prinzen und der Prinzessin doch wieder gefaßt. »Sie haben diese Schatten noch nicht gesehen. Sie wissen nichts von den Teufeln, die in ihnen wohnen.«
Vansen zuckte die Achseln. Er war selbst nicht glücklich darüber, wo es hinging und warum; mit seinen Worten hatte er vor allem den jungen Kaufmann aufmuntern wollen. Ferras Vansen war ein Junge aus Dalerstroy, aufgewachsen nicht weit von den unheimlichen Ruinen der einstigen Westmarksfeste — an Tagen, da der Südwind den Nebel zurückblies, konnte man manchmal von den höchsten Hügelkuppen die zerstörten Burgmauern sehen. Er wäre nie auf die Idee gekommen, die Schattengrenze und das, was dahinter lag, so verächtlich abzutun wie der Herzog von Gronefeld. Wie alle Menschen in seiner Heimat — stolze und meist ziemlich verschlossene Talbauern und Hirten — wußte er sehr genau, daß das Land, das seine Familie bewirtschaftete, erst seit wenigen Generationen in Menschenhand war. Die
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