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Die Grenze

Die Grenze

Titel: Die Grenze Kostenlos Bücher Online Lesen
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Begleitgeste, »Weiße Gedanken«.
    Den Qar des Nordens mochten die sterblichen Diebe gleichgültig sein, aber jenen, die südlich dieser eisigen Gefilde lebten, waren sie es nicht: Als Yasammez weiterritt, kamen sie aus den Höhlenstädten von Qirush-a-Ghat, »Erste Tiefen«, und aus den Dörfern der riesigen, dunklen Wälder, um ihre Pilgerfahrt zu sehen. Die Sternenlichttänzer auf den Hügelkuppen hielten inne und verstummten, als sie vorbeiritt. Die, die sie nicht kannten — denn es war lange her, daß Yasammez zuletzt ihr Haus Shehen verlassen hatte  —,  wußten nur, daß eine von den Mächtigen vorbeizog, so schrecklich und so schön wie ein Komet, und wenn sie auch solche Macht fürchteten und respektierten, jubelten sie ihr doch nicht zu, sondern beobachteten sie nur in beunruhigtem Schweigen. Diejenigen Qar, die sie von früher kannten, waren tief gespalten, denn sie alle wußten, wohin die Fürstin zog, sie wurde von Winden des Krieges und des Blutvergießens getragen. Manche kehrten zu ihren Familien oder in ihre Dörfer zurück, um die Ihren zu warnen, daß schlechtes Wetter nahte, daß es Zeit sei, das Nötige zu horten und die Mauern und Tore zu verstärken. Andere folgten ihr als eine stille, aber unablässig anwachsende Menge, die sie hinter sich her zog wie eine Brautschleppe. Sie alle wußten, der Bräutigam, dem sie entgegenzog, war der Tod, und er würde nicht wählerisch sein, wen er nahm, aber sie folgten ihr dennoch. Jahrhunderte des Zorns und der Furcht hielten sie zusammen wie eine Faust.
    Yasammez war die Klinge, die diese Faust in der Vergangenheit erhoben hatte. Jetzt würde sie sie wieder erheben.
     
    Ihre Ankunft stürzte Qul-na-Qar in Verwirrung. Als sie an der Spitze einer stummen Schar von Qar durch die mächtigen Tore einzog, war die uralte Zitadelle bereits in Lager zerfallen: eines von fanatischen Anhängern, eines nicht minder fanatischer Gegner und ein drittes, das größer war als die beiden anderen zusammen und dessen einzige Gemeinsamkeit die Resistenz gegen beide Extreme war, die Bereitschaft abzuwarten, wie sich die Dinge gestalteten. Aber das alles war an der Oberfläche nicht sichtbar, und dem unbeteiligten Betrachter — wenn es denn so etwas an diesem Ort gegeben hätte — wäre es so erschienen, als herrschte in der mächtigen Hauptstadt die übliche trügerische Ruhe, dieselbe geordnete Unordnung wie seit unvordenklichen Zeiten.
    Die Bediensteten, die Yasammez in Qul-na-Qar erwarteten und die fast alle nach ihrem letzten Besuch erst in ihre Dienste hineingeboren worden waren, hatten sich beeilt, ihre Gemächer im Ostteil der mächtigen Festung zu lüften, zum erstenmal seit Jahrzehnten die schweren Läden aufzustemmen und die Fenster zu öffnen. Die kalten Seewinde und das unablässige Rauschen des Meeres, wie das Atmen eines riesigen Tiers, erfüllten die Räume, während sie eiligst alles für ihre Herrin vorbereiteten. Dies war ein Tag, der, wie sie wußten, irgendwann ein eigenes Kapitel im Buch der Trauer bilden würde.
    Doch als Yasammez durch die Torhalle schritt, ohne die lebenden Skulpturen über sich eines Blickes zu würdigen, war sie nicht nur von ihrer eigenen Gefolgschaft umringt, sondern auch von allen Sensationshungrigen der Stadt — jenen Funkeläugigen, die sich in den spektakuläreren magischen Künsten versuchten, anderen, die ihre Zeit damit verbrachten, sich in den Künsten des Krieges und des Liebeswerbens zu perfektionieren, bis sie sich kaum noch voneinander unterschieden, all jenen Schmieden heimlicher Schlachtenpläne und Gründlern in vergessenen Mysterien. Aber sie war auch umringt von Eiferern, jenen, die danach gehungert hatten, daß eine Stimme ihre eigenen Katastrophenprophezeiungen machtvoll aufgriff, ihr eigenes Sehnen nach einem alles vernichtenden Verhängnis stillte. Sie alle kamen und sangen und stellten laute Fragen, zum Teil in Sprachen, die Yasammez selbst nicht verstand. Sie beachtete sie alle nicht, schritt nur von der Torhalle weiter in die Halle der schwarzen Bäume und immer noch weiter, durch die Halle der silbernen Knochen, die Halle der weinenden Kinder, die Halle der Edelsteine und des Staubs. Vor der Spiegelhalle blieb sie kurz stehen, ging aber nicht hinein, obwohl der blinde König und die schweigende Königin hinter diesen Türen warteten, da sie schon von ihrem Kommen gewußt hatten, noch ehe sie ihr hohes Haus verließ.
    Statt dessen befahl sie dem Bediensteten, der die Tür bewachte — ein Kind des

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