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Die Grenze

Die Grenze

Titel: Die Grenze Kostenlos Bücher Online Lesen
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viele überleben?«
    »Wir treffen solche Aussagen sehr ungern, Hoheit ...«, setzte der Akademie-Arzt an.
    Chaven musterte ihn stirnrunzelnd. »Mindestens die Hälfte überlebt. Es sei denn, es handelt sich um Säuglinge oder alte Leute.«
    »Die
Hälfte?«
Sie war wieder kurz davor zu schreien. Sie schloß die Augen und fühlte, wie die Welt um sie herum ins Trudeln geriet. Alle waren verrückt geworden. Alle waren vollkommen wahnsinnig. »Und worin besteht die Behandlung?«
    »Offene Fenster«, sagte Okros prompt. »Erde aus dem Kernios-Tempel unter Kopf- und Fußende des Betts. Und Wickel mit nassen Tüchern — Wasser aus den Becken im Erivor-Tempel wäre besonders gut, und natürlich müssen wir auch zu Erivor beten, da er ja der besondere Schutzpatron Eurer Familie ist. Das alles wird den Einfluß von Feuer und Luft schmälern.«
    »Auch Kräuter können helfen.« Als Chaven sich wieder nachdenklich die Stirn rieb, bemerkte Briony erstmals, wie schlecht der Hofarzt aussah. Sein Gesicht war blaß und müde, und er hatte Augenringe, so dunkel wie Blutergüsse. »Weidenrinde. Und Holunderblütentee wirkt ebenfalls fiebersenkend ...«
    »Wir sollten ihn auch zur Ader lassen«, ergänzte Okros, froh, über etwas Praktisches reden zu können. »Etwas weniger Blut in den Adern wird sein Leiden lindern.«
    Briony schob Chaven unsanft beiseite und ließ sich unter mächtigem Stoffgeraschel neben dem Bett nieder.
Diese Kleider fesseln mich wie ein widerspenstiges Pferd,
dachte sie, während sie eine bequeme Position zu finden versuchte.
Oder einen gefangenen Dieb. Es tut ja schon weh, sich zu bücken.
    Die Augen ihres Bruders waren nur Schlitze, aber zwischen den Lidern huschten seine Pupillen hin und her.
    »Barrick? Ich bin's, Briony. Oh, bitte, hörst du mich?« Sie berührte seine Wange, nahm dann seine Hand; trotz ihrer Wärme war sie so feucht wie etwas, das man in einem Gezeitentümpel gefunden hatte. »Ich verlasse dich nicht.«
    »Ihr
müßt
ihn verlassen, Hoheit«, sagte eine neue Stimme. Briony sah Avin Brone in der Tür stehen; seine Körpermasse füllte den Rahmen fast völlig aus. »Ich bitte um Verzeihung, aber die Wahrheit darf nicht verschwiegen werden. Es gibt viel zu tun. Morgen bestatten wir den Prinzregenten. Morgen muß jemand das Szepter übernehmen, damit die Leute sehen, daß immer noch ein Mitglied des Hauses Eddon auf dem Thron sitzt. Wenn Prinz Barrick zu krank ist, müßt Ihr das sein. Und ich habe Euch noch mehr mitzuteilen.«
    Eine verrückte Erregung überkam sie.
Dann wird die einzige Person, die mich bestimmt nicht zu Ludis schickt, auf diesem Thron sitzen.
Einen Moment lang sah sie vor sich, was sie alles tun konnte, was sie an Ungerechtigkeiten aus der Welt schaffen konnte. Dann sah sie wieder auf Barrick hinab, und die Vorstellung, was alles in ihrer Macht stünde, erschien ihr plötzlich bedeutungslos.
    »Wie viele sind erkrankt?« fragte sie Chaven.
    »An diesem Fieber? Bis jetzt?« Er sah den Akademie-Arzt an. »Ein paar hundert Leute in der Stadt, ist das richtig, Okros? Und etwa ein Dutzend hier auf der Burg. Drei von den Küchenmägden, glaube ich. Die Zofe Eurer Stiefmutter und zwei von Barricks Pagen.« Er tätschelte den Kopf des Jungen, der den nassen Lappen hielt. »Das sind die Fälle, die mir bekannt waren, als Euer Bruder erkrankte.«
    »Anissas Zofe? Aber was ist mit Anissa selbst?«
    »Eure Stiefmutter ist wohlauf und das Kind in ihrem Leib ebenfalls.«
    »Und von den Männern, die mit diesem Dawet kamen, hat keiner das Fieber?«
    Chaven schüttelte den Kopf.
    »Merkwürdig, daß ihr Schiff es hierhergebracht haben soll, aber keiner von ihnen krank ist.«
    »Ja, aber das Fieber
ist
etwas Merkwürdiges«, sagte dieser bleiche, ausgelaugte Chaven, der ihr fast wie ein Fremder erschien. Sie fragte sich plötzlich zum ersten Mal überhaupt, was er wohl machte, wenn er allein war, welche Art Leben und welche Gedanken er vor anderen verbarg, so wie es jeder tat. »Es kann den einen ereilen und den Nächststehenden verschonen.«
    »Wie Mord«, sagte sie.
    Briony war so ziemlich die einzige im Raum, die nach diesen Worten nicht das Zeichen gegen das Böse machte. Selbst Barrick stöhnte im Fieberschlaf.

    Er war gerannt und gerannt und jetzt endlich außer Reichweite der gesichtslosen Flüsterer, aber er wußte, sie waren immer noch hinter ihm her, strömten durch die labyrinthischen Räume, auf seiner Fährte wie Hunde. Er war in einem Flügel der Burg, den er nicht kannte,

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