Die Grenzgängerin: Roman (German Edition)
Sei also vorsichtig, wenn du Dinge siehst, die darauf hindeuten.« So Sowinskis trockener, väterlicher Ratschlag, bevor sie sich trennten und Müller auf die Reise ging.
Müller bewegte sich sehr langsam, setzte mit übergroßer Vorsicht Fuß vor Fuß und hatte ständig das Gefühl, in einer Falle zu stecken. Das kannte er, das hatte er viele Male durchlebt, aber nur selten war es tatsächlich eine Falle gewesen.
Dann saß da beim nächsten Schritt, überraschend und grell wie ein Blitz, dieser alte Mann in einem winzigen Raum. Über ihm baumelte eine trübe Funzel von der Decke, nicht mehr als fünfzehn Watt, und über allem lag eine unbeschreibliche, beinahe greifbare Stille.
Der Mann war vielleicht sechzig oder siebzig Jahre alt, unmöglich, das genau zu sagen. Er hockte auf dem Betonboden, zwischen seinen Beinen stand eine dunkle, längliche Glasflasche. Rotwein. Auf dem Etikett stand MAROC . Er hielt den Kopf gesenkt und summte vor sich hin, als sei er selig in wonnige Träume gehüllt.
Ein wenig irritiert dachte Müller: Ein Penner in Tripolis!
Er fragte sanft: »He, alter Mann. Was machst du hier?«
Der Mann hob den Kopf und antwortete nuschelnd mit der uralten Formel: »Allah, mein Freund, ist groß!«
Es war ein mageres, dunkelbraunes Wüstengesicht, durchzogen von tiefen Furchen, ein Gesicht wie eine grandiose Landschaft mit ganz hellen Augen darin. Der Mann trug uralte Sachen, ein langes, weißes, verdrecktes Hemd, zerfranst, darunter ein weißes Unterhemd, auf dem Kopf ein nachlässig geschlungener, verrutschter Turban, weiß mit einem blauen Muster. Sandalen vollkommen ausgetreten, Strümpfe zerlöchert. Er grinste ein wenig einfältig, und Müller blickte auf dunkelbraune faulige Stümpfe in einem schiefen Gebiss.
»Mir geht es gut, Mann«, nuschelte der Alte undeutlich. »Wo kommst du her?«
»Deutschland, Europa«, antwortete Müller leise. »Wieso brennt hier Licht? Nirgendwo sonst in diesem Haus gibt es Licht.«
»Mein Freund Muammar al-Gaddafi hat mir das Licht hier geschenkt, ehe er nach Sirte abgehauen ist. Ist es nicht traurig, dass der verdammte Bastard immer noch lebt?«
Der kahle Raum maß nicht mehr als zwei mal vier Meter. Es gab keinen Hinweis darauf, dass er in einen anderen führte. Nur weiße, vollkommen glatt verputzte Wände.
Der Alte saß auf einer weichen Unterlage, die wie ein altes Kissen aussah, dunkelrot, zerlöchert. Aus den Löchern quoll weiße Kunststofffüllung.
»Hast du einen Schluck Wein für mich?«, fragte Müller.
»Aber ja, mein Freund.« Der Mann nickte freundlich, und er sah Müller aus plötzlich wachen Augen an. »Nebenan steht ein ganzer Karton, da kannst du dir eine Flasche rausnehmen.«
»Wieso brennt hier Licht?«, fragte Müller erneut. »Und wieso kannst du mir eine Flasche Wein schenken?« Er fummelte in seinem Rücken die Tasche seiner Weste auf, in der der Colt steckte.
»Na ja«, sagte der Alte genüsslich, »das hier war ein reiches, sehr gastfreundliches Haus. Ein sehr reiches Haus, musst du wissen. He, was willst du mit der Waffe?«
»Dich notfalls erschießen«, erwiderte Müller trocken. »Steh auf und komm mit mir nach nebenan. Ich will Wein.«
»Ich bin betrunken.«
»Das macht nichts«, sagte Müller. »Steh auf.«
»Das geht aber nicht«, nörgelte der Alte. »Meine Beine wackeln.«
Müller schoss. Er wählte einen flachen Winkel zur linken, unteren Ecke des Raumes, der abprallende Geschossteile weitgehend vermied. Es war mörderisch laut, und der alte Mann zuckte heftig zusammen.
»Steh auf!«, sagte Müller scharf.
Der Alte rappelte sich hoch und stand plötzlich vor ihm. Er schwankte nicht und sagte: »Gut, ich zeige dir den Wein.«
»Du gehst vor mir her«, bestimmte Müller. »Und ich knalle dich auf der Stelle ab, wenn du einen Trick versuchst.« Er dachte irritiert: Wieso habe ich seinen Atem nicht gehört? Wieso das Summen nicht?
»Verstanden«, sagte der Alte. Dann ging er los.
Müller hielt sich dicht hinter ihm, kam auf den Flur hinaus, sah die nächste offen stehende Tür zu seiner Rechten und bemerkte auch dort eine Funzel an der Decke, die brannte. Natürlich, es war ganz einfach, es gab einen eigenen Stromkreis für diesen Teil des Hauses. Aber warum?
»Da steht der Wein«, sagte der Alte und deutete in die Ecke des Raumes.
Müller sah auf dem Karton die groß aufgedruckte Bezeichnung MAROC .
Der Raum war wesentlich größer als der, in dem der Alte gehockt hatte. In ungefähr einem Meter Höhe war
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