Die große Verschwendung
zerrüttetes Gemüt! Er spürte, wie urplötzlich irgendein Sinn des Lebens ins Kaminzimmer eindrang und ihn gleichmäßig umgab.
»Gratulation, lieber Herr Bürgermeister«, sagte, während die Suppentassen auf den Tisch kamen, Irmgard Vollmers vertrockneter Kopf am Gesicht ihres Mannes vorbei, und am Rand von Glabrechts Gedankenwelt gab es eine kurze Korrespondenz zwischen der Hühnersuppe und der Geflügelhaftigkeit dieses Kopfes. Frau Vollmer hob ihr Weinglas, alle taten es ihr nach, »wieder einmal eine wunderbare Rede, wirklich beeindruckend!«
Und jetzt prosteten alle dem Bürgermeister zu, der den Gruß entgegennahm, und endlich konnte Glabrecht sein Glas leer trinken.
Später begann die PowerPoint -Show für die Vollmers. Ö, die draußen auf ihren Auftritt gewartet hatte, schob einen Teewagen mit ihrem Notebook und dem Beamer in den Raum. Ein Ratsdiener entrollte eine kleine Leinwand über der roten Seidentapete hinter Günter Grass, der gehorsam seinen Stuhl zur Leinwand hin drehte, und wieder tauchten die weißen Schiffe auf, die Maritime Oper mit dem wellenförmigen Dach, die Haie im Aquarium, die kulturellen Leuchttürme, die Augenhöhen, die Meilensteine, die kreativen Quantensprünge, der ganze Schwindel.
Ö, im dunklen Hosenanzug, machte ihre Sache gut. Sie hatte wohl das Gefühl, hier an einem wichtigen Punkt ihrer Karriere angekommen zu sein. Am Ende der Show war, zu Glabrechts Überraschung, eine neue PowerPoint -Folie hinzugefügt worden: »Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne«, stand da eine halbe Minute lang im schweigenden Kaminsaal – graue Lettern vor meeresblauem Hintergrund –, darüber das Bremer Wappen, ehe die Beleuchtung wieder hochgeregelt wurde. Diese Idee musste dem einfachen Gemüt von Ö selbst entkrochen sein, Glabrecht würde sie dafür ausdrücklich loben. Im Übrigen hatte er jetzt einen idealen Grad des Betrunkenseins erreicht. Das Halbdunkel im Raum sowie die Konzentration der anderen auf die Show hatten, auch dank willig und diskret nachschenkender Ratsdiener, das zügige Leeren weiterer Gläser ermöglicht.
Als die Limandesfilets kamen, lehnte Frau Dreyer sich mit dem Oberkörper so weit über den Tisch, wie es ihre Titten überhaupt zuließen, ohne dabei Geschirr und Kerzenhalter wegzufegen, um Hinnerk Vollmer zuzuprosten: »Auf den Anfang! Auf den Zauber!«
Vollmers Gesicht zeigte jetzt eine Begeisterung, die gewiss auch vom tiefen Blick in den sich auftuenden Todescanyon zwischen den Dreyer-Brüsten befeuert war. Er erhob sich torkelig und ungeschickt. Der Bürgermeister und Frau Vollmer schafften es gerade noch, den Stuhl vor dem Umstürzen zu bewahren, und dann waren alle still.
»Auf den Anfang!«, sagte Vollmer mit jetzt erstaunlich lauter und machtgewisser Geschäftsmannsstimme, hob sein Glas, »Auf den Zauber!«, und trank das Glas fast völlig leer.
»Verehrter Herr Bürgermeister, hochverehrter Herr Grass, meine Damen und Herren.« Und dann erzählte er, wie er und seine verehrte Gattin, ohne deren Hilfe all das nicht möglich gewesen wäre, aus dem bremischen Unternehmen seines Vaters Jan Vollmer eines der größten Kaffee- und Kakao-Handelshäuser der Welt gemacht hatten, und dass man nun, auf ein langes Leben in dieser wunderschönen Stadt zurückschauend, sich vorgenommen hatte, den Menschen und der Stadt etwas zurückzugeben – auch im Bewusstsein der großen Tradition des bremischen Bürgertums, das sich seit jeher seiner Bringpflicht gegenüber der Allgemeinheit bewusst gewesen war. Und dass er und seine Frau sich entschlossen hatten, über ihre gemeinsame Stiftung zehn Millionen Euro für die MO zu spenden. Außerdem würden weitere fünf Millionen Euro in eine neu zu gründende Stiftung für den späteren Betrieb der Oper eingezahlt.
Die letzten Sätze der Rede waren vom Murmeln der geradezu hingerissenen Zuhörer grundiert. Als Vollmer endete, kam ein ruhiges, sich seines Effektes absolut sicheres »Bravo!« von Günter Grass. Genau in diesem Moment entschloss sich Glabrecht, alsbald einen von tiefer Betroffenheit erfüllten Nachruf auf ihn zu verfassen und auf seiner Festplatte zu bevorraten. Alle erhoben sich, klatschten, verließen ihre Plätze, um Vollmer die Hand zu drücken, zuerst der Bürgermeister, dann Frau Dreyer, die zusätzlich zwei Küsse auf die Wangen Vollmers setzte, die Kultur-Fröhlich, die jetzt selbstverständlich ebenfalls küssen musste, und so weiter.
Der Bürgermeister dankte. Eine große Stunde sei das, nicht nur
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