Die Große Wildnis: Band 1 (German Edition)
sprechen kann – wie zuvor schon in meinen Gedanken und zu der Motte in meinem Zimmer und dem Kakerlak im Hof.
Und doch ist es diesmal anders. Weil ich weiß, dass sie mir zuhören und mich verstehen. Daher sage ich die ersten Worte in meiner neu gewonnenen Sprache.
* Hört auf, mir ins Gesicht zu flattern! *
– Niemand hat verlangt, dass ich höflich sein muss. –
Die Tauben neigen den Kopf. Ich fürchte, sie scheren sich nicht darum, was ich sage oder denke. Die Weiße rappelt sich vom Fußboden auf, schüttelt den Kopf und hüpft zurück auf mein Bett, um sich dort heftig mit dem Schnabel unterm Flügel zu kratzen. Die anderen Tauben beachten die Weiße nicht, sondern stimmen ihren Singsang an, der wie das Heulen von Gespenstern klingt.
* Sie kommen, Kester Jaynes, sie kommen! Sie kommen, um dich zu holen! Halte dich bereit! *
Ich möchte am liebsten in die Hände klatschen und die Verrücktheit aus meinem Kopf verbannen. Aber dazu kommt es nicht mehr.
In meinem Gehirn knistert es, und meine Augen werden schwer, während meine Gedanken zurück in die Dunkelheit gleiten. Das Letzte, was ich höre, ist das Piepsen der weißen Taube.
* Wer kommt? Ich dachte eigentlich, wir gehen? Oh … *
Ein letztes Flattern und dann – nichts mehr.
Kapitel 5
Als ich aufwache, ist es immer noch Nacht.
Nirgendwo sind mehr Vögel. Nur das Bettzeug und der Stuhl in der Ecke sind da. Alles ist an seinem Platz, so wie in den vergangenen sechs Jahren, alles außer dem Fenster, das zersplittert ist und die kalte Luft hereinlässt.
Und doch ist alles anders. Die Benommenheit in meinem Kopf ist weg, und das Mondlicht, das durchs Fenster fällt, ist weißer und schärfer als zuvor. Auch die Schatten, die der Fensterrahmen wirft, sind klarer umrissen als sonst.
Ich bin kein bisschen müde. Ich bin wach und bereit für einen Kampf, auch wenn ich nicht weiß, gegen wen. Mir wird klar, dass ich nicht einfach so aufgewacht bin. Etwas hat mich geweckt, etwas in meinem Zimmer.
Ein Ritsch-Ratsch .
Ich ziehe die Decke hoch bis ans Kinn.
Die Ritsch-ratsch -Geräusche kommen von irgendwelchen Dingern, die ich nicht sehen kann, Dingern, die auf das Bett und über mein Bein krabbeln. Der Fußboden wimmelt nur so von ihnen, sie kriechen über mich hinweg, über meinen Bauch, meine Beine, über meine Arme, den Hals hinauf. Eine Armee harter Füßchen marschiert unaufhaltsam wie kleine Roboter über meine Brust. Kleine, zitternde Kieferwerkzeuge kauen die Luft nur Millimeter über meiner Haut.
Kakerlaken.
Scharen von Kakerlaken.
Einer von ihnen krabbelt zielstrebig die Bettdecke hinauf bis zu meinem Hals, seine fedrigen Fühler streifen meine Lippen.
* Bist du bereit? *, fragt eine Stimme. Eine tiefe Stimme.
Ich erkenne sie sofort. Beim letzten Mal war die Stimme nur ein metallisches Rattern, aber jetzt wird sie mit jedem Ton klarer und deutlicher.
* Bist du bereit? *, fragt sie noch einmal.
* Bereit wofür? *
Ich kann es immer noch nicht fassen, dass ich tatsächlich mit ihnen spreche. Einfach so. Der Kakerlak hält inne und seufzt. Ich wusste nicht, dass Kakerlaken seufzen können. Einen Moment lang frage ich mich, ob er mich womöglich beißen will. Das wäre eine ziemlich unfreundliche Art, mir für die Formula-Rationen zu danken.
* Kester Jaynes! Ich dachte, die dämlichen Tauben hätten dich vorgewarnt, dass wir kommen. Ich frage dich kein zweites Mal. Bist du bereit, wegzugehen? *
Ich fange an zu lachen.
* Weggehen? Raus aus meinem Bett? Um auf einem Stuhl voller Kakerlaken zu sitzen? Nein danke! *
Der Kakerlak wackelt ungeduldig mit den Fühlern.
* Nein, um von diesem Ort wegzugehen .*
Er bellt den anderen einige Befehle zu. Ein Zucken durchläuft sie und vom Fußboden ist ein Rascheln zu hören.
* Wer bist du? Was hast du vor? *
* Ruhe! *, blafft der Kakerlak. * Das wirst du noch früh genug erfahren .*
Er dreht den Kopf Richtung Tür, so als warte er auf etwas.
Ich folge seinem Blick zu dem schmalen Lichtstreifen unter der Stahltür. Die Umrisse von Kakerlaken sind zu sehen, die Insekten kommen und gehen unter der Tür hindurch, sie bringen einen Gegenstand heran, reichen ihn von einem zum anderen, einen Gegenstand, der ungefähr so groß ist wie sie selbst: ein flaches weißes Plastikding. Es wird immer näher herangetragen, über ein Meer aus Insektenpanzern, bis ich erkennen kann, was es ist.
Es ist die Schlüsselkarte, die normalerweise am Gürtel des schnarchenden Aufsehers baumelt.
Mit einem Ruck setze
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