Die Große Wildnis: Band 1 (German Edition)
mir, mich zu ihnen zu setzen. Ich suche mir ein einigermaßen trockenes Fleckchen Erde und lehne mich im Windschatten der alten Mauer gegen einen Felsen. Die Vögel scharen sich um mich.
* Tiere glauben nur an zwei Dinge* , beginnen sie. * An Rufe und an Träume. Rufe sind … * Sie zögern und su chen nach dem richtigen Wort. * Stell sie dir vor wie Lieder, mit denen sich in Not geratene Tiere gegenseitig rufen. Der Ruf des Hirschs hat das Letzte Wild versammelt und der Ruf des Kakerlaken hat uns ins Mentorium geführt – zu dir .*
Sie schweigen einen Moment, und ich versuche mir den General beim Singen vorzustellen. * Und die Träume?*
* Träume sind unsere Geschichten – unsere Erinnerung an die Tiere, die vor uns gelebt haben. Unsere Träume werden von Tier zu Tier weitergegeben, seit unsere Ahnen dieses Land zum ersten Mal betraten. Unter diesen Träumen gibt es einen besonderen, den wir uns seit Urzeiten immer wieder erzählen .*
* Wovon handelt er? *
Sie zögern und tauschen ängstliche Blicke aus, als dürften sie darüber eigentlich nicht sprechen.
* Kommt schon* , sage ich, * jetzt müsst ihr mir auch den Rest erzählen .*
Da bricht es aus ihnen hervor, alle gurren aufgeregt durcheinander …
*Von dir .*
Verwundert starre ich sie an. Der Hirsch, der die ganze Zeit über von einer kleinen Anhöhe aus die weiten Felder hinter dem Pferch im Auge behalten hat, kommt zu uns.
* Der Traum ist nichts für deine Ohren* , sagt er brüsk. * Die uralten Weisheiten unserer Vorfahren sind nur für uns Tiere bestimmt. Eines Tages wirst du –*
Ich lasse ihn nicht ausreden. Langsam habe ich genug von den Merkwürdigkeiten und Geheimniskrämereien.
* Warum rückt ihr nicht endlich heraus mit der Sprache! Ich will euch doch helfen. Und warum blickt ihr alle paar Sekunden zum Himmel?*
Der Hirsch seufzt und blickt nach oben. Am Himmel türmen sich die Wolken.
*Wenn ein Tier stirbt, erfahren wir es, ganz gleich wo wir gerade sind. Denn dann weint der Himmel Tränen *, sagt er. * Ein alter Traum erzählt, dass in dem Moment, in dem das letzte Tier auf Erden stirbt, der Sturm der Stürme ausbrechen wird und –* Mitten im Satz hält er inne und wittert in der Luft.
* Menschen* , sagt er. * Hier waren Jäger .*
*Wie lange ist das her?* , frage ich.
* Nicht mehr als eine halbe Sonne. Aber ich rieche sie noch .* Der Hirsch verblüfft mich stets aufs Neue. Ich nehme nur den Geruch seines Fells wahr, sonst nichts. * Und sie kommen zurück .*
Im selben Augenblick erscheint ein mit sechs breiten Geländereifen bestückter Transporter hinter den Hügeln. Die Kühlerhaube des gigantischen Fahrzeugs gleicht einer Rakete und es gleicht einem riesigen blinden Ungeziefer, das aus einem Erdloch krabbelt und langsam über das Gelände kriecht. Getönte Windschutzscheiben schirmen die Menschen im Inneren von der Außenwelt ab. Der Motor heult auf, als der Transporter scheinbar über den Hügelkamm kippt, bevor die Reifen wieder auf dem Boden auftreffen und sich tief in den schlammigen Boden graben. Ich springe auf den Rücken des Hirschs, der ohne ein weiteres Wort über die Steinmauer setzt und den grünen Hang hinabjagt, einer Baumgruppe entgegen.
Kapitel 14
In höchster Eile durchqueren wir das steinige Gehölz, der Weg führt immer weiter bergab. Mein Herz klopft bis zum Hals und ich drehe mich andauernd um. Aber uns verfolgen keine knirschenden, ratternden Räder, hinter uns erstreckt sich nur Baumreihe um Baumreihe, die sich zu schließen scheinen, sobald wir sie passiert haben. Ich möchte den Hirsch fragen, ob er glaubt, dass sie uns entdeckt haben, aber er ist so still und in Gedanken versunken, dass ich es nicht wage.
So wenig wie der Hirsch zum Reden aufgelegt ist, so versessen ist der General, sein Wissen an den Mann zu bringen. Obwohl wir auf dem Rücken des Hirschs kräftig durchgerüttelt werden, lugt er aus meiner Jackentasche hervor und erzählt mir noch mehr über die Gepflogenheiten der Tiere, während ich ihn mit Fragen bombardiere.
* Wie nennt ihr die grauen Bäume dort drüben?*
*Was du einen Baum nennst, das nennen wir ein Hohes Zuhause .*
*Wie heißen die roten Beeren an dem Busch dort?*
Er zögert und ist sich offenbar nicht sicher, wie er die Frage beantworten soll.
* Wenn ich dir unseren Namen dafür sage, verstehst du ihn vielleicht nicht .*
*Lass es darauf ankommen .*
*Wir nennen diese Beeren Nahrung .*
Die langen Fühler verschwinden wieder in meiner Tasche.
Als die Sonne untergeht,
Weitere Kostenlose Bücher