Die Große Wildnis: Band 1 (German Edition)
rufen uns die Tauben von oben zu: * Schneller, schneller – wir müssen möglichst weit vorangekommen sein, ehe die Nacht anbricht .*
Und wieder ahne ich, dass die Tiere Dinge sehen, die mir verborgen bleiben, Dinge wissen, von denen ich nichts ahne. Ein Angstschauer überläuft mich.
* Warum? Kommt die Maschine der Menschen näher?*
*Nein, aber in der Nacht sehen wir nicht so gut .*
Als wir das Gehölz wieder verlassen, sind wir von Berggipfeln umgeben, die sich dunkelblau vor dem Abendhimmel abheben. Es kommt mir jetzt viel kälter vor, deshalb ziehe ich meinen Schal fest um mich. Die Dunkelheit wird immer dichter und schwärzer. Sogar auf dem Rücken des Hirschs spüre ich den harten Untergrund, auf dem er läuft. Mein Hals, meine Schultern, meine Schenkel, alles tut weh. Und langsam glaube ich, dass sich mein Magen selber aufisst.
* Ich bin sehr müde und hungrig, Hirsch .*
Er springt von Felsen zu Felsen und tut so, als hätte er nichts gehört.
Ich spüre, wie mir allmählich die Augenlider schwer werden, mein Kopf sinkt tiefer, sinkt bis auf die Brust, bis ich nur noch ein schwankendes Bündel bin.
Ich könnte nicht sagen, ob fünf Minuten oder sehr viel mehr verstrichen sind, als ich schließlich an der glatten Flanke des Hirschs auf den feuchten Boden hinuntergleite. Wir stehen am Rand eines Tals. Im Mondlicht sind Tausende schwarzer Baumwipfel zu erkennen, meilenweit aufgereiht wie eine Armee in Paradeaufstellung, und ganz in der Ferne glitzert silbern ein Fluss.
An einigen Stellen spiegelt sich das Licht auf einem ausgeblichenen Dach oder einem erblindeten Fenster. In der Talsenke sind Häuser und Scheunen wie Spielzeuge verstreut, aber nirgendwo ist elektrisches Licht. Kein einziger Mensch ist zu sehen. Stattdessen sehe ich eingestürzte Mauern und den matten Schein verlassener Fahrzeuge. Außer unseren eigenen Atemzügen und dem Wind, der übers Gras streicht, ist alles still. Insgeheim hoffe ich, dass der Hirsch vorschlagen wird, hinunterzugehen und das Tal zu erkunden, vielleicht finden sich dort Vorräte, ein Bett, irgendetwas. Aber alles, was er sagt, ist: * Du kannst dich hier ein Weilchen ausruhen .*
Ich blicke mich um. Hier ist weder ein Bett noch sonst irgendeine Lagerstatt.
* Du musst nur genau hinsehen. Schau mit deinen Händen und Füßen .*
Mir bleibt nichts anderes übrig, als genau das zu tun. Halb kriechend, halb rutschend taste ich mich entlang. Das kurze, feuchte Gras endet an einer vorspringenden Böschung, und darunter fühlt sich der Boden trockener und wärmer an. Ich krieche in die natürliche Wölbung, ziehe die Knie eng an die Brust und lehne den Kopf an die Schulter, wie es die Tauben am See gemacht haben.
Ich weiß nicht, wie viele Stunden ich geschlafen habe, aber als ich wieder aufwache, ist es immer noch dunkel. Wasser tropft auf mein Gesicht und läuft mir in den Mund. Etwas Felliges stupst mich am Kinn.
Ich stoße es unwirsch von mir.
* Immer mit der Ruhe* , sagt der Hirsch. * Ich habe Wasser aus einer frischen Quelle geholt. Trink .*
Er gibt mir das Wasser aus seinem Maul. Wasser von einem Tier.
* Du musst trinken *, sagt erstreng.
* Ich möchte aber nichts trinken, was schon in deinem Maul gewesen ist!*
*Du musst trinken* , wiederholt er. * Dieses Wasser kommt direkt aus der Erde. Das reinste, das es gibt .*
Mein Mund ist so trocken und seine Augen sind kein bisschen rot – also trinke ich. Ich rechne damit, dass das Wasser widerlich schmeckt, aber es ist wirklich sauber und schmeckt angenehm.
Als ich mir das Kinn abwische, hüpfen zwei Graue Tauben auf meinen Schoß.
* Wir haben etwas zu essen für dich gesucht, Kester .*
Sie lassen Zweige voller Beeren und Nüsse aus ihren Schnäbeln in meine Hände fallen. Ehe ich sie richtig in Augenschein nehmen kann, hat Weiße Taube schon einen Zweig mit den saftigsten Beeren weggeschnappt.
* Kester, du hast uns etwas zu essen besorgt!* Zufrieden watschelt sie davon und zieht den Zweig hinter sich her. Die anderen Tauben wollen das nicht zulassen und der Streit endet in einem wütenden Knäuel aus Federn und Beeren.
Sollen sie ruhig. Ich schnüffle an den restlichen Beeren. Sie riechen seltsam säuerlich, obwohl es genau die Beeren sind, die der General als Nahrung bezeichnet hat. Die Nüsse sind von einer harten Schale umschlossen und ich habe nichts, womit ich sie knacken könnte. Die Erinnerung an Krabbencocktail-Hühnchen-Pommes-Geschmack überkommt mich und in meinem Magen spüre ich ein
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