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Die Große Wildnis: Band 1 (German Edition)

Die Große Wildnis: Band 1 (German Edition)

Titel: Die Große Wildnis: Band 1 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Piers Torday
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langgeht, und der Hirsch wittert nur noch ein letztes Mal in der Luft, bevor er hinterhertrabt.
    Es ist ungewohnt, die Welt vom Rücken eines Hirschs zu betrachten. Die Landschaft ist sanft und unendlich, vor uns erstreckt sich meilenweit offenes Gelände. Der Hirsch jagt jetzt im Galopp dahin, die Tauben fliegen hoch über uns und verschwinden gelegentlich hinter einer fernen Hügelkuppe.
    Unterwegs erfahre ich Dinge, von denen ich bisher nicht das Geringste ahnte. Die Grauen Tauben erzählen mir, dass sie niemals einen Baum oder ein Gesicht vergessen, und Weiße Taube erzählt mir, dass man mein Gesicht vergessen kann. Die Vögel erzählen mir, dass sie immer spüren, welche Richtung Norden, Süden, Osten oder Westen ist – ganz ohne Sonne und Mond. Der Hirsch schildert die verschiedenen Gerüche, die er unterwegs wittert. Vor langer Zeit wohnte hier ein Fuchs, dort sind noch die verlassenen Pfade von Schafen, und da drüben ist gutes Weidegras. Er verlässt sich mehr auf seinen Geruchssinn als auf seine Augen.
    * Und was ist mit mir?*, frage ich.
    * Wie meinst du das?* , fragt der Hirsch und setzt mit weichen Sprüngen einen grasbewachsenen Abhang hinab.
    * Ich meine, ihr seid in vielen Dingen so viel besser als wir Menschen – dafür seid ihr ja auch Tiere. Aber wie kann es sein, dass ich mit euch spreche? Das verstehe ich einfach nicht .*
    *Es ist eine besondere Gabe* , antwortet der Hirsch schlicht.
    * Das sagst du ständig. Aber das ist doch nicht normal. Wie kommt es, dass ich mit euch sprechen kann und niemand sonst?*
    Ohne Vorwarnung bleibt der Hirsch plötzlich auf einem bewachsenen Felsen stehen, dessen Farbe an rostiges Eisen erinnert. Er gibt mir keine Antwort, sondern wittert in der Luft und blickt unverwandt ins Tal.
    * Habe ich etwas Falsches gesagt?* , frage ich den General.
    Keine Antwort. Mit bebenden Fühlern starrt er in dieselbe Richtung wie der Hirsch. Ich folge dem Blick der beiden, kann aber nichts Außergewöhnliches entdecken.
    Durch die Senke zwischen den Hügeln ziehen sich vier verfallene Mauern, die zusammen ein weites Rechteck umschließen. Es sind Wälle aus großen Steinquadern, von denen jeder mindestens halb so groß ist wie ich. Selbst den kleinsten Brocken könnte ich nicht vom Fleck bewegen.
    Langsam nähert sich der Hirsch den Steinwällen. Die kantigen Blöcke sind nur lose übereinandergeschichtet und sehen aus, als könnten sie jeden Moment einstürzen. Die Tauben landen auf dem Moosteppich, der sich auf den obersten Steinen gebildet hat, und beginnen wie wild zu picken. Auch Weiße Taube will sich auf der Mauer niederlassen, verliert aber noch bei der Landung das Gleichgewicht und taumelt wie ein Knäuel aus weißen Federn zu Boden.
    * Schau genau hin, Kester* , gurren die grauen Vögel und zeigen mit ihren Flügeln auf die Mauer. * Das ist der Erste Pferch. Hier begannen die Menschen, Tiere zu halten und sie in Besitz zu nehmen *, singen sie im Chor. In ihren Schnäbeln hängen grüne Moosfasern. Zwischen den Mauern entdecke ich eine schmale Lücke, die von zwei senkrecht in den Boden gerammten Pfeilern markiert wird. Beim näheren Hinsehen bemerke ich die verwitterten Inschriften – gepunktete Linien, Kreise und Kringel, Pfeile und seltsam spitze Buchstaben, von denen ich keinen einzigen entziffern kann. Eingeklemmt in einer Spalte zwischen zwei Felsblöcken flattert etwas im Wind, ein wirres, feuchtes Büschel mit herbem Geruch – Wolle.
    * Was haben ein paar verfallene Schafszäune mit meiner Gabe zu tun?*
    Eine Sturmwolke zieht über unsere Köpfe und taucht uns in düstere Schatten. Die grauen Vögel sind nun schwarz, und ihre dunklen Augen blitzen, als sie mir antworten.
    * Eine ganze Menge. Hier beginnt der Traum von deiner Gabe .*
    * Ja * , krächzt Weiße Taube und klettert zurück auf den Wall, während die Wolke langsam weiterzieht. * Hier ist deine Gabe – ein paar alte Schafe .*
    Die anderen Vögel hacken verärgert auf sie ein und Weiße Taube taumelt rückwärts von der Mauer. Als die Vögel sich wieder zu mir umdrehen, liegt ein ernster und feierlicher Ausdruck in ihren Augen.
    * Dies ist der Ort, an dem die Menschen zum ersten Mal Schafe mit Steinmauern umschlossen, sich mit ihrer Wolle wärmten und ihre Jungen schlachteten .*
    *Na und?* Ich zucke mit den Achseln. *Was hat das mit uns zu tun? *
    *Kennst du denn nicht die alten Träume?* , fragen sie mich erstaunt.
    * Natürlich nicht. Woher auch?*
    Sie hüpfen herunter, landen im Gras und bedeuten

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