Die Große Wildnis: Band 1 (German Edition)
den Fuß. Zuerst zuckt Polly zusammen, weil die Verletzung sticht und brennt, aber allmählich wird sie ruhiger. Ich lege mich neben das Bett auf den harten Fußboden, lehne mich an die Wand und lausche auf ihre Atemzüge.
Es fällt mir schwer, die Augen offen zu halten.
Sollten sie dennoch zufallen, kann ich sicher sein, dass mich ausnahmsweise kein Fluss fortreißt und ich nicht vom Hirsch fallen werde. Daher lehne ich den Kopf gegen das Bett, gleich neben Polly.
Sie scheint nichts dagegen zu haben.
Als ich hochschrecke, ist es bereits mitten in der Nacht. Es ist stockfinster, nur eine einzige Lampe brennt noch.
Polly setzt sich auf, sie ist schon wach. Bestimmt will sie mir danken, weil ich ihr die Heilblätter gebracht habe.
Als sie sieht, dass ich wach bin, verzieht sie den Mund. Sie scheint nachgedacht zu haben. »Ich weiß, du hast eigens wegen mir diese Blätter besorgt, aber …« Ihre Augen blitzen und sie ist wütend und weinerlich zugleich. »Alles war gut, bis du aufgekreuzt bist. Jetzt ist Sidney tot und du hast mich allein gelassen … mit Tieren, die auf mich aufpassen sollten. Als wir Leute durch den Wald kommen hörten, dachte ich, du wärst es.«
Ich weiche ihrem anklagenden Blick aus. Ich wollte doch nur helfen.
»Aber nicht du bist gekommen, sondern diese Frau. Zuerst war sie ganz freundlich und hat gelächelt, sie hat versprochen, meinen Fuß zu kurieren und uns gegen die Keuler beizustehen. Als wir bei ihrer Maschine waren, hat sie angefangen, mich auszufragen, und uns mit Taschenlampen in die Augen geleuchtet – und jetzt hat sie uns hier eingesperrt.« Sie wird sehr still. »Ich frage mich allmählich wirklich, ob sie Freund oder Feind ist.«
Ich nicke, aber das scheint sie noch wütender zu machen.
»Ich will nach Hause, Kidnapper – kapierst du das? Versprich mir hier und jetzt, dass du mich nach Hause bringst.« Seufzend lässt sie sich gegen die Wand fallen und starrt die Schaufeln und Gabeln gegenüber an. »Ich möchte doch nur, dass alles wieder so ist wie früher. Warum kannst du das nicht machen? Warum kannst du mir nicht ein einziges Mal sagen, dass du dafür sorgst, dass es wieder gut wird?«
Wenn ich sie ansehe, wünsche ich mir um alles in der Welt, sprechen zu können. Ich spüre sogar, wie ein Muskel in meiner Kehle zuckt und meine Lippen sich beinahe so bewegen wie früher – aber dann ist es schon wieder vorbei.
Polly , sage ich zu ihr in meinen Gedanken. Ich kann dir nicht versprechen, dass es wieder so wie früher werden wird. Jedenfalls nicht sofort. Aber ich werde alles daransetzen, dass es besser wird. Ich werde dich wieder nach Hause bringen, das verspreche ich dir. Und als Erstes verschwinden wir von hier.
Ich stehe auf und nehme eine Schaufel zur Hand. Sie ist fürchterlich schwer.
»Kester!«
Ich höre nicht auf sie, sondern schleppe die Schaufel zur Tür. Dann hole ich tief Luft und schwinge sie, vor Anstrengung zitternd, über meinem Kopf und schlage sie mit aller Kraft gegen die Tür. Die Wirkung ist lächerlich, die Tür hat nur eine kleine Kerbe.
»Kester! Was machst du da?«
Ich beachte sie nicht. Die Schaufel zieht mich fast vornüber, aber ich packe sie noch etwas fester, hole noch etwas tiefer Luft und schlage erneut zu. Diesmal kommt ein langes Stück blankes, helles Holz zum Vorschein.
»Ich frage dich, was du da machst. Willst du die Tür etwa ohne mich aufbrechen?«
Ich drehe mich um. Seit wir die Sturmhöhe verlassen haben, lächelt sie zum ersten Mal wieder. Es ist nur der Anflug eines Lächelns, das anderen vielleicht gar nicht auffallen würde, aber ich sehe es. Sie legt ihre schmalen Hände neben meine auf den Stiel und wir heben die Schaufel gemeinsam hoch.
»Komm, Kidnapper, du hast es ja noch gar nicht richtig versucht.«
Wir lassen die Schaufel mitten in die Tür krachen. Ein Brett springt weg und kühle Luft weht herein.
»Komm! Fester!«
Schlag auf Schlag zertrümmern wir die Holztür, bis von ihr nichts mehr übrig bleibt außer den Spreißeln, die aus dem Türrahmen ragen. Ich werfe die Schaufel beiseite, Polly nimmt ihren Rucksack vom Bett, und gemeinsam machen wir uns auf die Suche nach meinem Letzten Wild.
Kapitel 30
Wir gehen auf dem gepflasterten Weg und durch die Scheune zurück. An der Tür, die in den Farmhof hinausführt, gebe ich Polly ein Zeichen, sich dicht hinter mir zu halten. Der Hof liegt verlassen und dunkel da. Nirgendwo rollen Traktoren oder Anhänger, nur die bedrohlich wirkenden Schatten
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