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Die große Zukunft des Buches

Titel: Die große Zukunft des Buches Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco , Jean-Claude Carrière
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gerade an einem Buffet ein Häppchen isst. Damit ist alles gesagt: Wir haben das Bild eines Mannes vor uns, der öffentliche Gelder verzehrt. Aber man kann es noch besser machen. Sagen wir, ich bin ein Staatsmann und weiß, dass am nächsten Tag eine für mich äußerst peinliche Nachricht erscheinen wird, die in sämtliche Schlagzeilen kommen könnte, dann lasse ich in der Nacht am Hauptbahnhof eine Bombe hochgehen. Am nächsten Tag werden die Zeitungen ihre Schlagzeile geändert haben.
    Ich frage mich, ob die Gründe für gewisse Attentate nicht solcherart sind. Ohne uns allerdings deshalb auf Verschwörungstheorien einzulassen und zu behaupten, die Anschläge vom 11. September seien nicht das gewesen, was wir glauben. Es gibt genügend Hitzköpfe auf der Welt, die so etwas verbreiten.
     
    J.-C. C.: Man kann sich nicht vorstellen, dass eine Regierung den Tod von mehr als dreitausend Bürgern gebilligt haben soll, um bestimmte Machenschaften zu decken. Das ist natürlich undenkbar. Es gibt aber in Frankreich auch ein sehr berühmtes Beispiel, das ist die Affäre Ben Barka. Mehdi Ben Barka, ein marokkanischer Politiker, wurde in Frankreich vor der Brauerei Lipp gekidnappt und mit hoher Wahrscheinlichkeit ermordet. Pressekonferenz von General De Gaulle im Elysée-Palast. Die Journalisten drängen sich. Frage:» Mon général , wie kommt es, dass Sie von der Entführung des Mehdi Ben Barka unterrichtet waren, jedoch einige Tage verstreichen ließen, bevor Sie die Information an die Presse weiterleiteten?« – »Aufgrund meiner Unerfahrenheit«, antwortet De Gaulle mit einer Geste des Bedauerns. Alles lacht, und die Sache ist erledigt. Das Ablenkungsmanöver hat funktioniert, in diesem Fall. Das Lachen hat den Sieg davongetragen über den Tod eines Menschen.
     
    J.-P. DE T.: Gibt es andere Formen der Zensur, die das Internet mittlerweile schwierig oder unmöglich machen würde?
     
    U. E.: Zum Beispiel die damnatio memoriae , die die Römer sich ausgedacht haben. Vom Senat verhängt, bestand die damnatio memoriae darin, jemanden nach seinem Tod zum Vergessen zu verurteilen, ihn dem Schweigen zu überantworten. Es ging darum, ihn aus den öffentlichen Urkunden zu streichen, die ihn darstellenden Statuen verschwinden zu lassen oder den Tag seiner Geburt zum Unglückstag zu erklären. Im Übrigen geschah unter dem Stalinismus dasselbe, wenn ein früherer, ins Exil verbannter oder ermordeter Führer von den Fotos getilgt wurde. Wie das bei Trotzki war. Heute wäre es schwieriger, jemanden von einem Foto verschwinden zu lassen, ohne dass im Internet frei zugänglich sogleich ein älteres Foto gefunden werden könnte. Der Verschwundene würde nicht lange verschwunden bleiben.
     
    J.-C. C.: Aber es gibt Fälle eines »spontanen« kollektiven Vergessens, das, scheint mir, noch wirksamer ist als der kollektive Ruhm. Dabei handelt es sich nicht um einen durch Abstimmung gefassten Beschluss wie beim römischen Senat. Es gibt so etwas wie eine unbewusste Entscheidung.Eine Art von stillschweigendem Revisionismus, von sanfter Ausschließung. Es gibt ein kollektives Gedächtnis, ebenso wie es ein kollektives Unbewusstes und ein kollektives Vergessen gibt. Eine bestimmte Persönlichkeit hat den »Augenblick ihres Ruhms« erlebt und verlässt uns, unmerklich, ohne jeden Ostrazismus, ohne jede Gewalt. Sie geht von selbst, unauffällig tritt sie über ins Reich der Schatten, wie die Filmregisseure der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, von denen ich sprach. Und wenn dieser Jemand aus unserem Gedächtnis verschwindet, allmählich aus unseren Geschichtsbüchern gestrichen wird, aus unseren Gesprächen und unserem Andenken, dann ist das zuletzt, als hätte er gar nicht gelebt.
     
    U. E.: Ich habe einen großen italienischen Kritiker gekannt, von dem es hieß, er habe den bösen Blick. Legenden rankten sich um ihn, und zuletzt hat er selbst vielleicht ein wenig damit kokettiert. Noch heute wird er in bestimmten Arbeiten nie namentlich zitiert, obwohl seine Rolle darin völlig unübersehbar ist. Das ist eine Form der damnatio memoriae . Ich für mein Teil habe es mir nie versagt, ihn zu zitieren. Nicht nur bin ich zufällig das am wenigsten abergläubische Wesen der Welt, sondern obendrein bewunderte ich ihn zu sehr, als dass ich das nicht hätte kundtun wollen. Eines Tages beschloss ich, ihn zu besuchen und dazu sogar ein Flugzeug zu benutzen. Da mir dabei nichts Unangenehmes zugestoßen ist, sagte man mir, ich stünde nunmehr unter

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