Die Gruben von Villette: Kriminalroman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
hatte keine Ahnung gehabt, daß er und Dominic einander kannten, aber während sie auf die Bestellung warteten, scherzten und redeten die beiden Männer miteinander, als hätten sie kürzlich Blutsbrüderschaft getrunken. Sie verband einiges, fand sie, auch wenn Willemart mindestens zwanzig Jahre älter war als Dominic.
Martine, die jetzt spürte, wie hungrig sie tatsächlich war,bestellte Hummersuppe und Lammkoteletts. Hoffentlich mußte sie das Essen heute abend nicht wieder erbrechen.
– Du fragst dich vielleicht, warum Dominic und Justin hier sind, sagte Julie, als sie ihre Vorspeisen bekommen hatten, aber sie haben etwas zu erzählen, und das könnte dich interessieren, es hat indirekt mit der Untersuchung des Mordes an Fabien zu tun. Hoffe, das verdirbt uns nicht die Freude am Essen.
Sie lächelte entschuldigend. Martine hatte fast vergessen, daß Julie Dominic bitten wollte, mehr über den Verkehrsunfall herauszufinden, bei dem die Mutter und der kleine Bruder der Schwestern Paolini getötet worden waren. Darüber wollte sie eigentlich jetzt beim Essen nicht reden, aber natürlich interessierte es sie.
Dominic erzählte, daß er sich ganz einfach an die kommunale Polizei des Villetter Vorortes Messières gewandt hatte, die im Oktober 1957 den Unfall untersucht hatte. Als Beamter am Justizpalast hatte er ohne Problem ins Archiv gehen und die alte Akte lesen dürfen, obwohl er offen gesagt hatte, daß er es aus eigenem Interesse tat.
Giovanna Paolini hatte nach dem Tod ihres Mannes für sechs Stunden am Tag Arbeit als Serviererin in einer Bar in Messières gefunden. Sie mietete sich für Kost und Logis bei einem Rentnerehepaar ein, das sich gegen eine geringe Bezahlung auch um den kleinen Tonio kümmerte, wenn seine Mutter arbeitete. Sie lebte sehr einfach und versuchte, von ihrem mageren Lohn eine Kleinigkeit zu sparen, um Süßigkeiten und kleine Geschenke für die Töchter im Kinderheim kaufen zu können.
– Das kam heraus, erklärte Dominic, weil es im Zusammenhang mit dem Unfall einige Fragezeichen gab. Giovanna Paolini war im Winter 1956 für ein paar Wochen in eineNervenheilanstalt eingeliefert worden, und man fragte sich, ob sie möglicherweise in Selbstmordabsicht vor ein Auto fuhr. Aber der Gedanke wurde für völlig abwegig gehalten. Sie war eine fromme Katholikin und hingebungsvolle Mutter, und alle, die sie kannten, sagten, es sei ganz ausgeschlossen, daß sie so etwas tun würde.
Es hatte an diesem Freitag abend, als Giovanna Paolini auf dem Fahrrad mit dem Sohn hinter sich im Kindersitz und einer Tüte mit Süßigkeiten für die Töchter im Fahrradkorb zum Kinderheim aufgebrochen war, gerade zu dämmern begonnen. Das Kinderheim lag auf dem Lande, vier Kilometer von Messières entfernt an einer wenig befahrenen Straße. Giovanna Paolini war drei Kilometer geradelt, als sie von hinten mit so großer Kraft angefahren wurde, daß sie und das Fahrrad in die Luft geschleudert worden sein müssen. Sie schlug mit dem Kopf auf einen Stein und ist vermutlich sofort gestorben, während der kleine Junge später an inneren Verletzungen im Krankenhaus starb.
– Der Unfall erregte einiges Aufsehen, sagte Dominic, wegen der Tragödie mit dem Kind, und wurde ziemlich gründlich untersucht. Und vieles deutete darauf hin, daß an dem Fall etwas dubios war. Es gab nicht die geringsten Bremsspuren an dieser Stelle, nichts, was darauf hindeutete, daß der Autofahrer versucht hätte, Giovanna auszuweichen. Es war immer noch so hell, daß der Fahrer sie problemlos hatte sehen können. Und die Straße ist so kurvenreich, daß Autos dort normalerweise sehr langsam fahren. Die Straße gibt es noch, ich habe sie getestet. Es ist schwer, in den Kurven mehr als fünfzig Stundenkilometer zu fahren. Giovanna Paolini wurde auf gerader Strecke getötet, aber um auf eine so hohe Geschwindigkeit zu kommen, wie sie der Autofahrerdem Urteil der Polizei nach hatte, muß er mit dem Fuß auf dem Gas gestanden haben, als er aus der Kurve kam, und da muß er die radelnde Frau am Straßenrand gesehen haben.
Martine nahm einen Löffel der milden, pernodgewürzten Hummersuppe und spürte, wie die Wärme sich in ihrem Körper ausbreitete.
– Mord? fragte sie versuchsweise.
– Den Verdacht gab es, sagte Dominic, aber die Polizei fand den Autofahrer nie, und deshalb ließ man es der Einfachheit halber als Unfall mit Fahrerflucht durchgehen. Und was für ein Motiv sollte jemand gehabt haben, eine arme italienische Witwe
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