Die Gruben von Villette: Kriminalroman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
fragte die Kollegen, ob er da nicht hingehen könnte, obwohl er sich nicht vorher angemeldet hatte. Ich riet ihm, es zu versuchen, auch wenn ich nicht glaubte, daß ihn meine Meinung interessierte. Er schien der draufgängerische Typ zu sein und hätte es sicher sowieso getan. Er wollte wohl nur wissen, ob er Krach schlagen müßte, um reinzukommen. Ach ja, und als ich am Dienstag kam, stand er vor der Bibliothek, das Tonbandgerät in Alarmbereitschaft. Ich begrüßte ihn und fragte, ob er nicht reingehen wollte, um sich anzumelden. Das hätte er getan, sagte er, es hätte kein Problem gegeben, aber jetzt stand er da und wartete auf Stéphane Berger. Alle anderen Teilnehmer der Podiumsdiskussion waren gekommen, aber Berger nicht. Ich ging rein und redete kurz mit einem Mann, den ich aus der Kommission kenne, einer der Veranstalter. Er erzählte, daß Berger am Morgen angerufen und abgesagt hatte, er war kurzfristig verhindert, es war etwas mit seiner Tochter, und deswegen mußte er nach Paris fahren. Pascal, der Mann aus der Kommission, war ziemlich sauer. Besonders, sagte er, weil er aus absolut sicherer Quelle wußte, daß Berger am Abend ein supergeheimes geschäftliches Treffen inHasselt haben würde, und das würde er sicher nicht verpassen.
– Und was tat Fabien Lenormand? fragte Christian.
– Er kam rein, sagte der Journalist, und sah sich um, als ob er hoffte, Berger doch dort zu sehen. Sie wissen, wie das ist, manchmal steht man da und wartet auf jemand, und dann schleicht er durch den Hintereingang rein. Ich ging zu ihm und erzählte ihm, was ich von Pascal gehört hatte, und da stöhnte er. Aber er setzte sich ins Seminar und hörte zu. Es war ziemlich langweilig, ich bin nach einer Stunde gegangen, und da saß Lenormand noch da.
– Haben Sie ihm erzählt, daß Berger am Abend nach Hasselt wollte? fragte Christian.
– Sicher, sagte der Journalist, und es schien ihn sehr zu interessieren.
– Wann hast du eigentlich das letzte Mal eine ordentliche Mahlzeit gegessen? fragte Julie.
Martine dachte nach und kam verdutzt darauf, daß es am Donnerstag gewesen sein mußte, als sie mit Jean-Claude Becker zu Abend gegessen hatte. Am Freitag hatte sie kaum das Frühstück herunterbekommen, weil sie an den Katzenkopf vor der Tür gedacht hatte und auch an ihre bevorstehende Begegnung mit Jean-Louis Lemaire in Brüssel. Den Lunch hatte sie aus denselben Gründen übersprungen, tote Katzen und alte Liebhaber konnten wirklich den Appetit dämpfen, und dann hatte sie es nicht geschafft, mit Valerie und Denise zu Abend zu essen, wie es ihre Absicht gewesen war, weil sie die Nachricht vom Überfall auf Nathalie Bonnaire bekommen hatte. Das Sandwich, das sie am Freitag abend mit nach Hause genommen hatte, war im Mülleimer gelandet, nachdem sie denBrief mit Bildern ermordeter Untersuchungsrichter geöffnet hatte.
Und vom guten Abendessen des Donnerstags hatte sie ja den größeren Teil erbrochen.
Kein Wunder, daß sie sich matt und wirr im Kopf fühlte. Müde war sie nicht, Adrenalin und Koffein ließen sie auf Hochtouren laufen, aber sie mußte sich wohl beruhigen und eine Weile die Gedanken sammeln. Jean-Paul Debackers Gruppe im kommunalen Polizeigebäude arbeitete kompetent daran, Spuren zu sichern und Zeugen für den Mord an Birgitta Matsson zu suchen, und wußte, daß Martine zur Verfügung stand, wenn sie widerspenstige Zeugen bestellen, eine Hausdurchsuchung durchführen oder jemanden festnehmen mußten.
Martines Problem war, daß die beiden Morduntersuchungen in ihren Gedanken verschmolzen, weil beide auf Stéphane Bergers Geschäfte hindeuteten. Und wie war das mit Istvan Juhász? Er war in den fünfziger Jahren in Hanaberget und Granåker gewesen, konnte Birgitta Matsson ihn gekannt haben?
In Martines überhitztem Gehirn kollidierten zwei Gedanken und bildeten eine Idee, die für eine Sekunde in Neonfarbe aufflammte, aber sofort wieder erlosch. Es war ganz einfach nicht möglich. Sie reckte sich über den Schreibtisch, zog die Akte an sich, die auf Julies Seite lag, und sah sie schnell durch. Nein, es war nicht möglich.
– Ich empfehle ein frühes Abendessen, sagte Julie und stand auf, geh dir die Zähne putzen oder mach einen Spaziergang um die Île Saint-Jean oder sonst was, und dann sehen wir uns in einer halben Stunde in der Blinden Gerechtigkeit. Ich muß vorher nur noch ein paar Dinge erledigen.
Sie winkte und verschwand durch die Tür.
Martine blieb sitzen. Wie konnte sie es schaffen, das
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