Die Gruben von Villette: Kriminalroman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Tempo zu drosseln? Das einzige, was sie wirklich tun wollte, war, mit Thomas zu sprechen. Die Sehnsucht nach ihm fühlte sich an wie ein physischer Schmerz im Körper. Oder war es nur gewöhnlicher Hunger, was sie fühlte?
Thomas hatte ihr die Telefonnummer des Ehepaars Bure gegeben, als er am Vormittag angerufen hatte, und jetzt tippte sie sie resolut ein.
Es war Einar Bures Frau, die abhob. Martine war ihr einmal begegnet und hatte sich gewundert, daß eine siebzigjährige Doktorin der Literaturgeschichte ein so gieriges Interesse an Morduntersuchungen zeigte. Nein, sagte sie bedauernd, Thomas sei nicht da, er und Einar seien weggegangen, um sich die Ausgrabung einer langweiligen mittelalterlichen Dorfstraße anzusehen, die sie unerhört aufregend fanden. Sie versprach auszurichten, daß Martine angerufen hatte, und erzählte, daß sie gerade im Radio gehört hatte, daß eine schwedische Politikerin in Villette erschossen worden war.
Das Telefon klingelte wieder, kaum daß sie aufgelegt hatte. Jetzt war es der Brüsseler Korrespondent der schwedischen Nachrichtenagentur, er sprach Englisch und wollte über den Mord an Birgitta Matsson reden.
– Aber ich kann die Identität der toten Frau nicht bestätigen, sagte Martine, ich bin nicht einmal sicher, ob ihre Angehörigen schon unterrichtet sind.
– Das brauchen Sie nicht, sagte der Reporter, die ist der Agentur vom schwedischen Außenministerium bestätigt worden, und wir haben bereits bekanntgegeben, daß eine Kommunalpolitikerin aus Mittelschweden in Villette ermordet worden ist. Haben Sie einen Verdächtigen?
– Nein, wir haben keinen Verdächtigen, sagte Martine.
– Wissen Sie, was Birgitta Matsson in Villette gemacht hat?
Martine zögerte ein paar Sekunden, kam aber rasch zu dem Ergebnis, daß es eher von Vorteil sein könnte, von der geplanten Begegnung der ermordeten Frau mit Annalisa Paolini zu erzählen. Das klang harmlos und konnte gefährlichen Spekulationen vorbauen.
– Ich weiß, sagte sie, daß sich Madame Matsson mit einer lokalen Politikerkollegin verabredet hatte, eine Art Partnerstadtkontakt vielleicht, um gemeinsame kommunale Probleme zu diskutieren.
– Hat sie sie treffen können? fragte der Reporter.
– Nein, sagte Martine, sie wurde erschossen, kaum daß sie aus dem Zug gestiegen war.
Sie war mit Medien hinreichend vertraut, um zu wissen, daß dieser Satz in dem Artikel weit oben stehen würde.
– Wurde noch jemand bei der Schießerei verletzt? fragte der Reporter. Offenbar gingen die Medien immer noch davon aus, daß Birgitta einem Verrückten zum Opfer gefallen war, der auf der Place de la Gare wild um sich geschossen hatte, und das war auch besser so, dachte Martine.
– Nein, sagte sie, nur Madame Matsson.
– Ist das nicht komisch, sagte der Reporter, schießt so ein Verrückter normalerweise nicht, bis ihn jemand aufhält? Oder bis er sich selber umbringt?
– Das weiß ich nicht, sagte Martine, normalerweise haben wir solche Fälle hier in Belgien nicht. Dieser Schütze hatte sich jedenfalls entfernt, als wir an den Tatort kamen. Wir versuchen jetzt, Zeugen zu finden, die gesehen haben, wie er gekommen oder verschwunden ist. Hören Sie, ich habe im Augenblick nicht mehr zu sagen. Wir werden morgen vermutlich eine Pressekonferenz haben.
– Da werde ich dasein, sagte der Reporter düster, zusammen mit einer Menge anderer schwedischer Journalisten. Wie heißt die Politikerin, die Birgitta Matsson hätte treffen sollen?
– Das kann ich nicht sagen, sagte Martine, Sie sollten morgen mehr fragen.
Sie legte auf.
Julie war vor Martine in der Blinden Gerechtigkeit eingetroffen, und sie war nicht allein. Zwei Männer saßen rechts und links zur Seite der Rechtspflegerin und standen höflich auf, als Tony Martine an den Tisch führte, den er für sie reserviert hatte.
Sie kannte beide. Dominic di Bartolo, elegant wie eh und je, war sonnenverbrannt, als hätte er den ganzen Sommer im Freien verbracht, und sah zehn Jahre jünger und sorgloser aus als in all den Jahren, in denen sie ihn als administrativen Chef im Justizpalast kannte. Entweder war das Julies Verdienst, oder es lag daran, daß er die Last schwerer Geheimnisse, die er viele Jahre lang getragen hatte, losgeworden war. Wahrscheinlich beides, dachte Martine.
Überraschter war sie, den zweiten Mann zu sehen. Justin Willemart war Rechtsanwalt, und Martine hatte ihn im Zusammenhang mit einem Fall, an dem sie im Frühjahr gearbeitet hatte, kennengelernt. Sie
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