Die Gruben von Villette: Kriminalroman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
neugierig. Und einmal, als ich so eine Rechnung über einen Personalkurs abgeliefert hatte, hörte ich, daß Monsieur Victor jemanden anrief, auf seinem privatenTelefon, das, das nicht über die Zentrale geht, und zu dem, mit dem er redete, sagte, daß die Unterlagen zu schlecht seien. Es müßten mehr Namen auf den Anwesenheitslisten stehen und mehr Stunden berechnet werden, »nur zu, erfinden Sie etwas«, hat er gesagt. Und ich habe die Unterlagen meistens gesehen, und ich kenne mehrere von denen, die im Werk arbeiten, und die haben gesagt, daß es nicht stimmte. Am Anfang gab es zwar Kurse, aber da wurde mächtig übertrieben, wie viele dabei waren und wie viele Stunden es waren und so. Aber zuletzt, glaube ich, haben sie das Ganze einfach erfunden.
– Ich war ja am Donnerstag bei Berger Rebar, sagte Martine, ist danach etwas passiert?
Caroline nickte eifrig.
– Ja, am Freitag hat Monsieur Victor gesagt, ich sollte alle Ordner mit Rechnungen und Unterlagen zu alledem in Kartons packen. Es sollte archiviert werden, hat er gesagt. Aber die Kartons, in die ich alles legen sollte, kamen von Mazzeris Putz. Das fand ich komisch.
Acht Stunden später war alles für die Operation Hausdurchsuchung am Montag morgen vorbereitet. Im Morgengrauen sollte die Polizei gleichzeitig im Büro von Berger Rebar, in Bergers Villa, Louis Victors Wohnhaus im Villenvorort Luton, Mazzeris Putz, Dino Mazzeris Wohnhaus und dem Annex zum Rathaus in Messières, wo die kommunale Ausbildungsgesellschaft ihr Büro hatte, zuschlagen. Martine war mit Julie wieder und wieder die Beschlüsse daraufhin durchgegangen, ob sie korrekt formuliert waren und sich im Rahmen dessen hielten, was die Voruntersuchung betraf. Die Pläne von Berger Rebar samt Feuertreppen und Notausgängen hatte man von der Feuerwehr bekommen,und Caroline Dubois hatte hilfsbereit angegeben, wozu die verschiedenen Büroräume benutzt wurden und wer dort eingesetzt war, bevor sie von Papa Obsthändler, der den ganzen Nachmittag im Kaffeeraum der Untersuchungsrichter im dritten Stock auf seine Tochter gewartet hatte, nach Hause gefahren wurde.
– Jetzt werden sie wohl giftsauer auf mich, sagte Caroline unglücklich.
Martine dachte einen Augenblick daran, wie es aussehen würde, wenn Berger, Victor, Dolhet und die Brüder Mazzeri »giftsauer« wurden. Aber Caroline Dubois konnte kaum in Gefahr schweben. Sie hatte ja schon erzählt, was sie wußte.
– Ich glaube, Sie sollten nicht damit rechnen, daß Sie morgen zur Arbeit gehen, sagte Martine, und vielleicht lange Zeit nicht. Es würde vielleicht nicht einmal schaden, wenn Sie eine Weile verreisen würden. Und Sie dürfen mit absolut niemandem über das reden, was Sie hier heute erzählt haben. Mit niemandem!
Vincent Dubois schnaubte.
– Es hat mir nie gefallen, daß das Mädel für diese dubiose Figur aus Marseille gearbeitet hat. Meine Schwester und ihr Mann bauen bei Lisieux Äpfel an, und sie könnten Hilfe auf dem Hof gebrauchen. Ich fahre Caroline heute abend hin.
Caroline sah bei dem Gedanken an einen Blitztransport zur Tante in der Normandie nur eine Spur rebellisch aus.
– Tun Sie das, sagte Martine ermunternd, und erzählen Sie niemandem, daß sie dorthin gefahren ist.
Martine wählte die Nummer von zu Hause, froh, daß dort endlich jemand war, der auf sie wartete. Vielleicht hatte er sogar Abendessen gemacht, dachte sie, oder zumindest etwas eingekauft.
– Kommst du jetzt nach Hause, sagte Thomas, das paßt perfekt. Wir haben gerade Besuch bekommen!
Besuch war nicht das, wonach sich Martine sehnte. Sie wollte die Schuhe abstreifen, ein Glas Wein trinken, etwas Gutes essen, zusammen mit Thomas früh schlafen gehen. Sie wollte sich nicht anstrengen, nicht Gastgeberin sein, und das müßte Thomas eigentlich wissen. Wer konnte das sein?
Sie war erstaunt, als sie die Tür öffnete und Philippe ihr entgegenkam, breit lächelnd, eine geöffnete Weinflasche in jeder Hand. Sie hatte ihren Bruder nicht so fröhlich gesehen, seit … seit Tatia geboren worden war, dachte sie. Das war sechzehn Jahre her, und seine Freude damals war ein seltener Lichtblick in der konstanten Depression gewesen, die während der elf Jahre, die er mit Bernadette Vandermeersch verheiratet gewesen war, wie eine nasse Decke über Philippe gelegen hatte. Am Ende war er manchmal lebhaft, beinah manisch gewesen. Erst danach hatte Martine begriffen, daß das an dem Amphetamin lag, das er zu nehmen begonnen hatte, um bis Mitternacht
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