Die Gruben von Villette: Kriminalroman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Überstunden machen zu können und nicht zu Bernadette nach Hause gehen zu müssen. Dann hatten sie sich scheiden lassen, und da war es mit ihrem schönen und brillanten Bruder schnell bergab gegangen.
– Gratuliere mir, Titine, sagte Philippe und küßte sie auf beide Wangen, ohne sie zu umarmen, ich habe einen Beraterauftrag bekommen, meinen ersten!
– Gratuliere, sagte sie, was für einen Auftrag?
– Ich soll herausfinden, wie die ungarische Stahlindustrie mit der Konkurrenz auf dem Binnenmarkt fertig werden kann.
Mit Tony Deblauwe als Finanzier hatte er gerade eineBeratungsfirma gegründet, mit der Zielsetzung, Unternehmen in Ost- und Mitteleuropa zu helfen, sich dem Regelwerk auf dem Binnenmarkt der EU anzupassen, ein Regelwerk, über das Philippe als früherer Jurist in der Kommission am besten Bescheid wußte.
– Du weißt doch nichts über die Stahlindustrie, sagte Martine und hängte ihren Mantel auf. Sie hörte selbst, daß sie unfreundlich klang, und erinnerte sich streng daran, daß der Bruder nicht mehr der Rivale war, als den sie ihn wie in der Kindheit immer gesehen hatte.
Philippes Lächeln war nur eine Spur angestrengt.
– Nein, aber dem kann man ja abhelfen, sagte er. Komm jetzt essen, Titine, Thomas hat gerade den Tisch gedeckt. Wir haben das Abendessen aus der Blinden Gerechtigkeit mitgebracht.
– Oh, ist Tony hier, sagte sie erfreut.
– Nein, nicht Tony, sagte Philippe eilig, er hatte im Restaurant zu viel zu tun.
Zuerst erkannte sie den Mann, der höflich aufstand, als sie ins Wohnzimmer kam, nicht wieder, aber dann begriff sie, daß es Henri Gaumont war, der französische Oberst, den ihr Philippe nach der Befragung im Parlamentsausschuß vorgestellt hatte. Jetzt war er in Zivil, in Hose und Sakko und locker gebundenem Seidenhalstuch im offenen hellblauen Hemd. Er sah wirklich sehr gut aus. Aber warum hatte Philippe ihn mitgebracht? Er war vielleicht eine Art Stahlexperte, dachte sie unsicher, Waffen und Stahl gehörten ja zusammen.
Henri Gaumont beugte sich über ihre Hand und bat um Entschuldigung dafür, daß sie sich aufdrängten, wo sie sich doch mitten in zwei Morduntersuchungen befand, er hoffe, daß sie nicht allzusehr störten.
– Sie hätten sicher lieber mit Ihrem Mann Ihre Ruhe gehabt, sagte er. Seine Stimme war tief und warm, er klang wirklich, als liege ihm viel an ihrem Wohlbefinden, und Martine konnte nicht anders, als ihn anzulächeln.
– Ich habe Hunger, sagte sie, und Sie haben Essen mitgebracht, hat Philippe behauptet. Gäste, die Essen mitbringen, sind immer willkommen.
Auf dem Eßzimmertisch standen zwei große Schüsseln mit dem Entenlebersalat der Blinden Gerechtigkeit und ein Korb mit duftendem, knusprigem Brot aus der Bäckerei um die Ecke. Philippe schenkte gerade Wein in die Gläser.
– Jetzt trinken wir über meine Verhältnisse, sagte er, aber ich habe von den Kollegen eine Kiste geschenkt bekommen, als ich aufgehört habe.
In den letzten Jahren hatte Philippe in einer Hotelbar in Brüssel gearbeitet.
– Hast du gekündigt? fragte Martine und sank auf den Stuhl, den Oberst Gaumont für sie hervorzog.
Philippe nickte und hob sein Glas.
– Ich habe gestern aufgehört. Santé auf neue Zeiten!
Es wurde ein angenehmes Essen, und es lag nicht an Martine, daß das Gespräch auf Stéphane Berger und »Die Bullen von Saint-Tropez« kam. Danach fragte sie sich, wie es eigentlich dazu gekommen war. Sie selbst hielt sich beinhart an die Voruntersuchungsschweigepflicht, aber es war schwer, den Mord an Birgitta Matsson, der den ganzen Tag die Nachrichtensendungen in Radio und Fernsehen dominiert hatte, außen vor zu lassen. Niemand konnte Thomas daran hindern zu erzählen, daß er die ermordete Politikerin kannte, daß er sie getroffen hatte, als sie gerade zu der verhängnisvollen Reise nach Brüssel aufbrach, und daß sie nach Stéphane Berger gefragt hatte.
– Oh, Berger, sagte Philippe nostalgisch, erinnert ihr euch an »Die Bullen von Saint-Tropez«? Ich habe keine Folge davon verpaßt, als ich dreizehn, vierzehn war.
– Du, sagte Thomas erstaunt, was hast du darin gesehen? Ich meine, ich habe die vor allem wegen der Autojagden angeguckt und wegen all der hübschen Mädchen im Bikini, aber das war doch nicht dein Ding? Jedenfalls die Mädchen nicht?
Philippe sah ein wenig verlegen aus.
– Nein, sagte Thomas, nein, Philippe, sag nicht, daß Inspektor Bruno die Attraktion war!
– Natürlich nicht, sagte Philippe gekränkt, wofür
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