Die Gruben von Villette: Kriminalroman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Leben davonkam, weil ich den Fahrkorb um ein paar Sekunden verpaßt habe, da nutzte ich die Chance. Ich ging ins Grubenbüro und nahm dieses Papier, als alle anderen rausgelaufen waren, um zu sehen, was los war. Dann ging ich am Abend zu Morel nach Hause, ich wußte, wo er wohnte, und sagte, daß ihn diesesPapier ins Gefängnis bringen könnte, aber daß es nie rauskommen müßte, wenn er mir Geld gäbe, damit ich Villette verlassen und weit wegkommen könnte. Da war er ziemlich mitgenommen, er war mit Rettungsarbeitern in die Grube eingefahren, aber sie hatten aufgrund der Hitze und des Rauchs umkehren müssen, er war sich also selbst bewußt, was er angestellt hatte. Er gab mir alles Geld, was er zu Hause hatte, ein lächerlicher Betrag, würde ich heute sagen, aber damals war es mehr Geld, als ich bis dahin je gesehen hatte. Er wollte natürlich das Papier, aber ich war nicht so dumm, es mitzubringen. Später am Abend sprang ich auf einen Güterzug und verschwand für immer.
Mit gemischten Gefühlen dachte Martine an den siebzehnjährigen Jungen, der so schnell die Katastrophe, die seine Kameraden getötet hatte, als seine eigene Fahrkarte zu einem besseren Leben begriffen hatte.
– Aber wie können Sie damit leben, sagte sie, Sie kannten ja die Männer, die starben. Wenn Sie das Papier nicht genommen hätten, wären die Verantwortlichen für deren Tod vielleicht verurteilt worden!
– Wenn ich das Papier nicht genommen hätte, hätte Morel es verbrannt, das wäre passiert, entgegnete Berger.
– Aber Sie hätten es dem Staatsanwalt übergeben können!
Berger sah nur eine Spur verlegen aus.
– Und wozu hätte das geführt? Die Chefs, die wegen des Unglücks in Many verurteilt wurden, bekamen, wieviel, ein Jahr Gefängnis, auf Bewährung, und das wurde als hart betrachtet! Und ich, ich war nur ein Junge von siebzehn, ich wußte kaum, was ein Staatsanwalt ist, aber ich genoß es, Morel schwitzen zu lassen und außerdem selbst eine Chance zu bekommen, von vorn anzufangen. Meine Kumpel warentot. Aber ich lebte, und ich wollte ein Leben, das etwas wert war.
– Aber wenn Sie das Papier nicht genommen hätten, hätten die Schwestern Paolini ihre Mutter und ihren kleinen Bruder vielleicht nicht verloren, sagte Martine leise. Giovanna Paolini wurde ermordet, damit sie nicht von der Sitzung und dem Papier erzählen konnte.
Bevor Berger antworten konnte, war in dem kleinen Raum eine Vibration zu spüren. Jemand befand sich in dem Wandschrank jenseits der blinden Wand. Martine hielt den Atem an und ballte die Fäuste, so daß die Nägel rote Halbmonde auf ihren feuchten Handflächen hinterließen. Der Boden im Wandschrank bestand aus losen Brettern, und sie spürte, wie das Brett, auf dem sie saß, sich bewegte, als Arnaud Morel jenseits der Wand darauf trat.
Aber er bemerkte die blinde Wand nicht. Nach ein paar Minuten hörten die Schritte auf, und es war klar, daß er den Wandschrank verlassen hatte. Berger nahm seine Erzählung mit einem Eifer wieder auf, der zeigte, daß er auf eine quälende Diskussion über seine Verantwortung für Giovanna und Tonio Paolinis Tod lieber verzichten wollte.
Der Güterzug, auf den er gesprungen war, hatte ihn nach Hamburg gebracht. Dort hatte er einen Job auf einer Baustelle gefunden und war sechs Wochen geblieben, bis die Fragen nach Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis zu lästig wurden. Dann hatte er eine Zugfahrkarte nach Wien gelöst, eine Stadt, in der sein Vater als junger Mann gearbeitet hatte und von der er immer auf poetische Weise gesprochen hatte. Dort war er auf einige ungarische Studenten getroffen, die flüsternd erzählt hatten, daß in der Heimat Dinge im Gange waren. Neugier und Abenteuerlust hatten ihn bewogen, in das Land, in dem er sieben Jahre seiner Kindheitverbracht hatte, zurückzukehren, und da war er mitten in der Revolte 1956 gelandet.
– Ich stand auf einer Barrikade und warf Molotowcocktails auf sowjetische Panzer, sagte Berger amüsiert, können Sie sich das vorstellen, Madame Poirot!
Die Revolte wurde niedergeschlagen, und schließlich war er zusammen mit anderen Flüchtlingen in Schweden und der Grubenortschaft Hanaberget gelandet.
– Und die Welt ist ziemlich klein, sagte Berger, ich habe mich ein bißchen umgehört, als Sie sagten, Sie hätten dieses Bild, und erfahren, daß Sie mit einem Bruder der kleinen Sophie Héger verheiratet sind! Das war ein lustiges Mädchen, sie und ihre Großmutter haben mir Schwedisch beigebracht. Wenn wir hier
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