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Die Gruben von Villette: Kriminalroman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Die Gruben von Villette: Kriminalroman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Die Gruben von Villette: Kriminalroman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Hedström
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wie war das mit Großvater Schuhmacher?
    – Ja, das war gut, nicht, sagte Berger zufrieden, aber es war tatsächlich absolut wahr. Mein Großvater, Jozsef Klein, war aus Ungarn, aber er gehörte zu den deutschen Streitkräften, die 1914 Richtung Paris vorrückten. Er wurde verletzt und in einem Graben gefunden, von einer süßen Französin, die dafür sorgte, daß er Pflege bekam, und ihn dann heiratete. Er ließ sich in ihrem Dorf nieder, er war Schuhmacher, und tüchtige Schuhmacher werden immer gebraucht. Seine Tochter, meine Mutter, bekam dann in den dreißiger Jahren einen Job an der ungarischen Botschaft in Paris, weil sie Ungarisch sprach. Mein Vater war Chauffeur an der Botschaft und machte den Fehler, 1939 mit seiner Familie nach Ungarn zurückzukehren. Aber daß sowohl ich als auch meine Mutter in Frankreich geboren wurden, hatte zur Folge, daß ich gleich Anrecht auf die französische Staatsbürgerschaft hatte, als ich mich dann dort niederließ.
    Während des Krieges lebten wir in Ungarn, das war zu übel, sage ich Ihnen, und als die Rote Armee einmarschierte, flohen wir. Belgien suchte verzweifelt Arbeiter für die Kohlengruben, und so landeten wir hier. Meine Mutter sprach ja Französisch, das war ihre Muttersprache, das machte es leichter. Da war ich neun.
    Er betrachtete Martines Jil-Sander-Jacke und Magli-Stiefeletten und lächelte freudlos.
    – Waren Sie jemals in einer Kohlengrube, Madame Poirot, sagte er, nein, das dachte ich mir. Es hat meinen Vater ziemlich schnell umgebracht. Dann habe ich da angefangen, als ich sechzehn war, und wäre ich nicht abgehauen, hätte es mich auch umgebracht.
    Sie erinnerte sich an das Interview, in dem er über seine Eltern gesprochen hatte. Was hatte er gesagt?
    – Sie haben einmal in einem Interview gesagt, Ihr Vater hätte Ihnen das Träumen beigebracht, sagte sie.
    – Ja, sagte Berger, er träumte immer von dem guten Leben, er war Sohn eines Pelzhändlers, der nach dem Ersten Weltkrieg in Konkurs ging und alles verlor. Reiche Leute in teuren Pelzen, schicke Autos, er träumte davon, das zu haben, was die Kunden des Pelzhändlers in der Zeit, als es gut ging, hatten. Er arbeitete in Budapest und Wien und Paris als Chauffeur, er war ein fescher Kerl, der in der Chauffeuruniform gut aussah. Aber er war weich und hatte keine Kraft, im Gegensatz zu meiner Mutter, die die Familie zusammenhielt. Sie hätte die Grube sicher besser überstanden.
    – Sie hatten eine Sitzung, sagte Martine, ein paar Tage vor der Katastrophe, die Arbeiter protestierten dagegen, daß sie in die Grube geschickt wurden, obwohl es Gas in den Örtern gab.
    – Ja, sagte Berger, wir versammelten uns bei Angelo und Giovanna, es war Angelos Idee. Wie viele waren wir noch? Daran erinnere ich mich nicht mehr genau.
    Er nahm Martine das Papier aus der Hand und betrachtete die unbeholfenen Unterschriften. Sie sah, wie ein Schatten über sein Gesicht zog. Männer, die er früher einmal gekannt und mit denen er gearbeitet hatte, hatten das Papier unterzeichnet, ein paar Tage bevor sie in der brennenden Grube starben.
    – Genau, sagte er, neun waren wir. Wir hatten kein Papier, deshalb haben wir eine Brottüte zerrissen, die wir ein bißchen geglättet haben, damit sie ordentlich aussah. Das Wichtige war sowieso das, was auf dem Papier stand, dachten wir. Wir haben es unterschrieben und abgeliefert. Und Sie sehen, was passiert ist.
    Martine betrachtete das Papier mit dem roten Stempel: »Maßnahmen abgelehnt«.
    Und die gewandte Unterschrift unter dem Stempel, so anders als die Namenszüge, die die neun Grubenarbeiter mit ungeübten Händen gekrakelt hatten – »Arnaud Morel, Grubeningenieur«. Der Mann, der jetzt der Aufsichtsratsvorsitzende von Forvil war, war für die Grubenkatastrophe 1956 direkt verantwortlich.
    Christian rief in Arnaud Morels Haus außerhalb von Villette an und erfuhr, daß der Aufsichtsratsvorsitzende von Forvil in dieser Woche tatsächlich in Villette war, aber ausgerechnet heute freigenommen hatte, um auf die Jagd zu gehen.
    Jagd? Der Gedanke an Morel mit einem Jagdgewehr in der Hand flößte Christian unangenehme Ahnungen ein, und er beschloß, selbst zu dem Mann nach Hause zu fahrenund ihn an Ort und Stelle zu treffen. Gleichzeitig gab er Annick den Auftrag, in Erfahrung zu bringen, was Morel am Dienstag nach dem Seminar in Brüssel unternommen hatte. Er gab ihr zu verstehen, daß es eilig war, was sie zu Recht so interpretierte, daß sie freie Hand hatte, mit der

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