Die Gruben von Villette: Kriminalroman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
schloß die Augen und sah sich selbst mit Thomas an ihrer Seite in einen hohen Raum mit Kristallkronen an der Decke schweben, in dem schwarzen Kleid, mit sehr hohen Absätzen, perfekt aufgesteckten Haaren und den antiken Diamantohrringen ihrer Mutter. Die Vision war deutlich wie ein Film, glitzernd und glamourös, weit weg von ihrem Alltag mit Polizeiberichten, verschüttetem Kaffee und jähem Tod.
Was für ein Leben lebte sie eigentlich? Im Regen stehen und Leichen in Eisenbahnwaggons angucken, war es das, wovon sie geträumt hatte?
Auf dem Tisch vor dem Sofa lag ein Entwurf für das Cover von Thomas’ neuem Buch. Über dem offenen Kamin hing das Bild, das sie von Thomas’ Mutter zur Hochzeit bekommenhatten, eine Vorstudie zu ihrem großen Gemälde »Die neue Anbetung des Lammes«. Auf dem Stuhl schimmerten die Perlen an Tatias Kleid auf der matten Oberfläche des Crêpestoffes. Zwischen den Familienfotos im Bücherregal stand das sechzehn Jahre alte Bild ihres Bruders Philippe, dunkel und filmstarschön, mit der neugeborenen Tatia auf dem Arm.
Ein Buch, ein Bild, ein Kleid. Ein Kind. Andere Menschen schufen etwas, aber was tat sie? Und was würde sie hinterlassen?
Ich habe mich dafür entschieden, für die Gerechtigkeit zu arbeiten, dachte sie, Gerechtigkeit für die Ermordeten und Mißhandelten und Betrogenen. Und das war wahr, aber es gab viele Möglichkeiten, sich für Gerechtigkeit einzusetzen. Sie hatte sich dafür entschieden, Richterin zu werden. Keine Journalistin, die Korruption und Machtmißbrauch aufdeckte, keine politische Aktivistin, die Demonstrationen gegen Unterdrückung und Ungerechtigkeiten organisierte, sondern eine Richterin mit den Machtmitteln des Staates in ihren Händen.
Wie alle anderen in ihrem Berufsstand hatte sich Martine bis zum Überdruß Balzacs Kommentar zum Untersuchungsrichter anhören müssen – »die mächtigste Person in Frankreich«. Und da war etwas Wahres dran, im heutigen Belgien ebenso wie im Frankreich des 19. Jahrhunderts. Von ihrem Kabuff im Justizpalast aus konnte Martine mit ein paar Federstrichen mächtige Männer arretieren oder Polizisten schicken, die deren Wohnungen und Büros durchsuchten. Und keiner konnte sie absetzen, keiner konnte ihr Befehle erteilen.
Sie wußte sehr wohl, wann sie sich dafür entschieden hatte, daß sie lieber Macht als keine Macht haben wollte.Als sie zehn war, war ihr Vater, Polizeikommissar Gustave Poirot, verdächtigt worden, Bestechungsgelder angenommen zu haben. Er war unschuldig gewesen, aber der Verdacht hatte mehrere Monate seinen Schatten über ihre Familie geworfen. Ihre Schulkameraden hatten hinter ihrem Rücken geflüstert, die Nachbarn hatten angefangen, ihren Eltern auszuweichen, und in den Geschäften im Viertel waren die Gespräche verstummt, wenn jemand aus der Familie Poirot hereingekommen war. Der Vater, der von seiner Arbeit suspendiert worden war, versuchte, einen zusätzlichen Job zu finden. Nach mehreren trostlosen Wochen hatte ein entfernter Bekannter der Familie sich erbarmt und Gustave Poirot als Sicherheitsverantwortlichen in einem Hotel in Knokke-Heist angestellt. Lange Zeit brach er im Morgengrauen zur flämischen Küste auf und kam abends erst nach Hause, wenn Martine schon ins Bett gegangen war. Immer öfter übernachtete er im Hotel. Seine Abwesenheit am Eßtisch wurde zum schwarzen Loch, das ebensoviel dunkle Energie freisetzte wie seine grübelnde und immer bitterer werdende Anwesenheit.
Aber Gustave Poirot war zu Hause gewesen an dem Tag, als der interne Ermittlungsbeamte der Polizei morgens um sechs mit einem Hausdurchsuchungsbeschluß an die Tür geklopft hatte. Martine war von erregten Stimmen im Erdgeschoß geweckt worden und in ihrem neuen rosa Frotteemorgenmantel in die obere Diele geschlichen. Sie würde nie vergessen, was sie sah, als sie über das Treppengeländer hinunterguckte. Ihre Mutter Renée lag ohnmächtig auf dem Boden, während ihr Vater, weiß vor Wut, mit drei fremden Männern stritt. Sie hatte geglaubt, daß es Einbrecher seien, daß alle in der Familie ermordet würden, und solche Angst bekommen, daß sie sich zunächst im Kleiderschrank versteckt hatte.
Da hatte Martine noch nicht gewußt, daß ihre Mutter schon einmal im Morgengrauen von hartem Hämmern an der Tür geweckt worden war. Viele Jahre früher im Krieg war Renée von der Gestapo verhaftet und in ein Konzentrationslager gebracht worden, ein Familiengeheimnis, von dem Martine erst vor ganz kurzer Zeit erfahren
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