Die Gruben von Villette: Kriminalroman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
erzählen?
Sie sah Martine und Julie flehend an, als könnten sie ihr bei der Trauerbotschaft an die Tante helfen. Tränen tropften still aus ihren Augen auf das weiße Shirt, wo sie tropfenförmige kleine feuchte Flecken hinterließen.
– Ja, sagte Martine vorsichtig, wir glauben, daß er Opfer eines Gewaltverbrechens wurde, und deshalb ist es wichtig, daß Sie mir alles erzählen, was Sie über ihn wissen, so schnell wie möglich. Können Sie jetzt reden?
Die junge Journalistin nickte, und Julie nahm ihren Notizblock heraus. Nathalie Bonnaire hob ihre Teetasse, aber ihre Hände zitterten so sehr, daß sie sie nicht zum Mund führen konnte, sondern sie mit einem Knall auf der Untertasse absetzte.
– Ich habe ja dieses Jahr im Mai den Job bei der Gazette de Villette bekommen, und Fabien hat mich im Juni besucht. Er hat freiberuflich gearbeitet, wollte aber gern eine Anstellung haben und hat mich gefragt, ob ich glaube, daß er auch eine Chance hätte, eine Vertretung bei der Gazette zu bekommen oder etwas anderes in Villette. Aber damalswar nichts frei. Dann sah ich im Juli eine Stellenanzeige, es ging um ein Projekt, ein Verein suchte einen Journalisten, der irgendeine Schrift über ein Grubenunglück 1956 zusammenstellen sollte. Nicht wirklich das, was Fabien suchte, aber ich habe ihm davon erzählt, und er kam her und hat sich beworben und den Job gekriegt. Er fing in der ersten Septemberwoche an zu arbeiten und zog als Untermieter bei mir ein, die Miete ist wirklich recht hoch, deshalb war es gut, da Hilfe zu bekommen.
Sie machte mit dem Kopf eine Geste zu einem Bücherregal, das im rechten Winkel zur Wand in den Raum hineinragte. Dahinter war eine Schlafcouch zu sehen.
– Da hat er geschlafen, sagte sie, es funktionierte sehr gut. Ja, und er fing an, an dieser Schrift zu arbeiten, und schien das richtig interessant zu finden, er interviewte Leute und las alte Papiere und so. Aber der Grund dafür, daß er so gern nach Villette kommen wollte, das habe ich von Anfang an geahnt, war, daß er mit einer großen Arbeit über Stéphane Berger beschäftigt war. Er wollte herausfinden, wo Berger seinen letzten großen Einsatz hatte. Ehrlich gesagt, ist Fabien wohl etwas von ihm besessen.
Sie merkte, daß sie ein falsches Tempus benutzt hatte, und kniff den Mund zusammen, um zu verbergen, daß ihre Unterlippe zitterte. Ihre Augen flossen plötzlich über, aber sie hielt die Teetasse mit den hohlen Händen, um sie zu wärmen, trank einen Schluck und fuhr fort, ohne die Tränen, die ihr die glatten Wangen hinunterliefen, zu beachten.
– Fabien kommt, kam, meine ich, aus diesem Ort etwas südlich von Lille, wo es eine Fahrradfabrik gab, die Berger kaufte und abwickelte, Vélo Éclair. Sein Vater, mein Onkel Denis, arbeitete da und viele andere, die er kannte, und siewurden arbeitslos, und Onkel Denis war so gebrochen, daß er sich totfuhr, vielleicht mit Absicht. Berger verkaufte das Warenzeichen an eine Firma irgendwo in Osteuropa, glaube ich. Und so was passiert ja, aber das Schreckliche war, daß alle so froh gewesen waren, als Berger das Unternehmen übernahm, und er ließ sich darauf ein, tat so, als würde er kommen, um da im Ort die Jobs zu retten, ließ den ganzen »Inspektor Bruno«-Zirkus ablaufen. Fabien machte eine Reportage über Vélo Éclair, die er an eine französische Zeitschrift verkaufte, und Berger soll darüber unheimlich sauer gewesen sein, besonders über den Titel, es war etwas mit »Ein Wolf als Hirte«. Aber Berger hatte ja mit Vélo Éclair nichts Ungesetzliches getan, zumindest konnte Fabien es ihm nicht nachweisen. Aber er war überzeugt davon, daß es in Bergers Tätigkeit etwas Anrüchiges zu enthüllen gab, und damit hat er sich beschäftigt. Er versuchte, Leute bei Berger Rebar in Villette zu interviewen, aber alle weigerten sich, mit ihm zu sprechen, das war wohl nach dem Wolf-Artikel.
Martine runzelte die Stirn.
– Aber, Nathalie, entschuldigen Sie, hat das etwas mit Fabiens Tod zu tun? Ich brauche konkrete Fakten, wie zum Beispiel, wann Sie ihn zum letzten Mal gesehen haben, was er da tun wollte, solche Dinge.
– Das kommt, sagte Nathalie Bonnaire, ich bin gleich soweit. Es war nämlich so, daß er am Montag abend von Brüssel aus anrief und erzählte, daß er die größte Entdeckung seines Lebens gemacht habe. Er tat geheimnisvoll und wollte nicht erzählen, worum es ging, aber ich habe gemerkt, daß er ganz außer sich war. Er versprach, alles zu erzählen, wenn er am
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