Die Gruben von Villette: Kriminalroman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
hatte und aufgrund dessen sie Renées Entsetzen und Gustaves hilflose Wut an diesem Tag besser verstand; weitere Tropfen Eiter und Galle für den dunklen Ort in ihrer Seele, wo ihre schwärzesten Erinnerungen immer noch brodelten und siedeten.
Philippe hatte sie dazu gebracht, aus dem Kleiderschrank herauszukommen, und ihr erklärt, was da passierte. Auch er war weiß im Gesicht gewesen, hatte Angst gehabt, daß seine Geheimnisse entdeckt würden, als die Polizisten in seinen Schubladen kramten und unter seiner Matratze suchten. Martine hatte Brechreiz empfunden, als die fremden Männer ihre Kommodenschubladen herauszogen, zwischen ihren Slips herumwühlten, ihre Briefe durchsahen.
Aber es gab nichts zu finden, und sie hatten nichts gefunden. Nachher hatte Gustave Martine erklärt, ein Untersuchungsrichter hätte entschieden, daß die Polizisten ihr Zuhause durchsuchen durften und daß nur Untersuchungsrichter solche Dinge entscheiden durften. Sie hatte sich vorgestellt, wie er aussah, und versucht, ein Bild von einem Mann in schwarzer Robe mit kleinen, stechenden Augen und einem grausamen Lächeln zu zeichnen, ein Bild, in das sie mit der scharfen Spitze der Feder hineingehackt hatte. Dann hatte sie gedacht, daß es auch gerechte Richter geben müsse und daß sie so einer werden würde.
Und sie hatte ihr Ziel erreicht, obwohl ihre Eltern, die andere Vorstellungen davon hatten, was Mädchen tunsollten, sich dem widersetzten. Sie dachte oft an Macht und Machtlosigkeit, wie sie als Mädchen gespürt hatte, daß andere ihr Leben und ihre Zukunft lenkten, sogar ihren Körper. Jetzt hatte sie Macht, und es gefiel ihr, sie zu haben. Das erstaunte sie manchmal.
Aber sie rang ständig mit ihrem Gewissen. Die Rolle des Untersuchungsrichters besteht darin, als Ankläger und als Verteidiger zu agieren, die Interessen der Verdächtigten ebensosehr wie die der Gesellschaft zu beachten. Nicht selten sagte sie nein zu Polizisten, die einen Hausdurchsuchungsbeschluß von ihr wollten, ohne hinreichend starke Gründe zu haben, während sie zugleich manchmal Entscheidungen treffen mußte, die die Mächtigen in der Gesellschaft herausforderten.
Sie hatte selbstverständlich Feinde. Und manchmal hatte sie das Gefühl, daß sie selbst hinter der Rolle verschwand, daß die Martine, die sie eigentlich war, unter der schwarzen Richterrobe in Vergessenheit geriet. Es gab eine Distanz um sie, viele, mit denen sie schon lange arbeitete, nannten sie immer noch Madame.
Aber trotz allem fand sie nach wie vor, daß sie die richtige Wahl getroffen hatte. Und eines Tages, gelobte sie sich selbst, würde sie nach Uccle zurückkehren, ins Polizeiarchiv gehen, die Voruntersuchung gegen ihren Vater lesen und in Erfahrung bringen, was eigentlich passiert war.
Sie stellte den Fernseher an. Sie mußte sich entspannen, um schlafen zu können. Mit etwas Glück würde sie eine Sendung finden, die nicht die geringste intellektuelle oder gefühlsmäßige Anstrengung erforderte, am besten eine Wiederholung. Nachdem sie eine Weile gezappt hatte, fand sie auf einem der flämischen Kanäle eine uralte Folge der »Bullen von Saint-Tropez«, mit niederländischen Untertiteln,und sie hoffte, sich durch ein wenig nostalgisches Fernsehen entspannen zu können. Philippe hatte die Serie hingebungsvoll verfolgt, als er dreizehn, vierzehn gewesen war. Sie fragte sich, was ihn gereizt hatte – die bikinibekleideten Schönheiten, die in jeder zweiten Szene herumtrippelten, waren es definitiv nicht.
Das Telefon an ihrer Seite klingelte, als Inspektor Bruno gerade mit harter Miene einen Nachtklub in Saint-Tropez betrat, um den Klubbesitzer über das geheimnisvolle Verschwinden einer australischen Millionärstochter zu befragen.
Es war Thomas.
– Oh, wie schön, daß du anrufst, seufzte Martine, ich fühle mich so einsam hier. Wie geht es Greta? Wann kannst du zurückkommen?
– Greta geht es ziemlich schlecht, leider, sagte Thomas, und deshalb weiß ich nicht, wann ich nach Hause komme. Wo bist du gewesen? Ich habe heute abend mehrere Male angerufen.
Er hörte sich aufmerksam ihre Erzählung über die Leiche in der Erzladung an. Martine erinnerte sich plötzlich, daß Michel Pirot gesagt hatte, das Erz komme aus Hanaberget in Schweden, genau da, wo Thomas sich jetzt aufhielt.
Im Fernsehen zog der Nachtklubbesitzer einen riesigen Revolver unter der Bartheke hervor. Er richtete ihn auf Inspektor Bruno, der sich auf die Seite warf, so daß die Kugel durch seine
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