Die Gruben von Villette: Kriminalroman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
einfügte, ohne einen Augenblick seinen Hintergrund zu vergessen. Sie hatten auf der Schwelle zu einer tieferen Beziehung gestanden, als Jean-Claude Chantal Lemoine, eine hübsche Brünette aus Villette, kennengelernt und sich Hals über Kopf in sie verliebt hatte, auf eine Weise, wie es bei Martine nie der Fall gewesen war. Gleichzeitig hatte der Lièger Politiker Jean-Louis Lemaire ein Auge auf Martine geworfen und angefangen, ihr leidenschaftlich den Hof zu machen, und sie hatte mit der Zeit nachgegeben, teilweise, glaubte sie manchmal, weil sie sich von Jean-Claude zurückgewiesen gefühlt hatte. Er war seiner Geliebten nach Villette gefolgt, hatte das Universitätsstudium an den Nagel gehängt und einen Job bei Forvil angenommen. Dort hatte er sich bald als tüchtiger gewerkschaftlicher Unterhändler erwiesen, einen Vertrauensauftrag nach dem anderen bekommen und war geblieben. Seit fünf Jahren war er Gewerkschaftsvorsitzender bei Forvil. Chantal und er hatten zwei Söhne, acht und zehn Jahre alt. Er und Martine begrüßten einander herzlich, wenn sie sich sahen, hatten aber keinen näheren persönlichen Kontakt gehabt, seit sie nach Villette gezogen war.
Bis jetzt. Sie wickelte sich ihren grünen Schal um den Hals, nahm die Schultertasche vom Schreibtisch und zog die Tür zum Dienstzimmer hinter sich zu. Anstatt wie gewöhnlich den Fahrstuhl hinunter zur Straße zu nehmen, wählte sie den Durchgang, der vom Annex zum alten Bischofspalast führte, der jetzt der Justizpalast von Villette war, ging mit klappernden Absätzen die abgenutzen Stufen der Treppe hinunter und überquerte den schachfeldkarierten Marmorboden, wo noch Gruppen von Anwälten standen, vertieft in Unterhaltungen über Rechtsfälle, über Fußballspiele oder darüber, wo sie zu Abend essen sollten.
Sie blieb auf der Treppe des Justizpalastes stehen und sah über die Place de la Cathédrale. Ihr gegenüber auf der Insel erhob die Kathedrale Saint Jean Baptiste ihre mächtigen Türme, und die schrägen Strahlen der sinkenden Sonne ließen das helle Gestein der Kathedrale glühen. Obwohl die Touristensaison vorbei und die Kühle des nahenden Herbstes in der Luft zu ahnen war, saßen noch viele Menschen in den Straßencafés auf dem Platz. Die Straßenlaternen wurden gerade angezündet. Rechts glitt ein langer Prahm, beladen mit Steinen, auf dem Fluß vorbei. Aus dem offenen Fenster seines Ruderhauses waren einige Takte Rockmusik mit dumpfen Baßrhythmen zu hören, bevor er vom Dunkel zwischen den Ufern verschluckt wurde.
Die Tür zur Blinden Gerechtigkeit stand offen, und Licht und Wärme strömten aus dem vollbesetzten Lokal auf den Platz, zusammen mit Stimmengewirr. Eine große Gruppe Anwälte hatte zwei Tische mitten im Lokal zusammengestellt und saß jetzt da und argumentierte lauthals über ein kontroverses Urteil. Ihre schwarzen Roben hingen über den Stühlen oder lagen nachlässig zusammengeknüllt auf dem Boden.
Jean-Claude war schon da. Tony führte Martine an den Tisch, den er für sie reserviert hatte, ein Tisch für zwei in einer versteckten Nische, wo sie ungestört reden konnten.
Jean-Claude stand auf, als sie kam, und beugte sich hinunter, um sie auf beide Wangen zu küssen. Er hatte die Jeans und die Wildlederjacke gegen eine dunkle Hose, ein beiges Cordsakko und ein hellblaues offenes Hemd ausgetauscht. Er trug keinen Schlips. Seine aschblonden Haare hingen ihm in die Stirn, genau wie damals, als sie zum ersten Mal zusammen ausgegangen waren.
– Ich habe schon eine Karaffe von dem roten Hauswein bestellt, sagte er, möchtest du etwas anderes?
– Nein, das ist gut, sagte Martine und sank dankbar auf den Stuhl, den Tony für sie hervorzog.
– Hast du einen neuen Koch, Tony, fragte Jean-Claude, ich sehe, daß du Luxemburger Hausmannskost auf der Karte hast?
– Ja, sagte Tony, ein junger Typ aus Wasserbillig, er ist gut.
– Dann nehme ich judd mat bounen , sagte Jean-Claude, das habe ich seit Ewigkeiten nicht gegessen. Martine?
– Mach etwas Gutes für mich, sagte sie bittend zu Tony, hast du Pilze? Ein Omelett mit viel Pilzen, und einen Salat dazu, und vielleicht etwas Carpaccio als Vorspeise.
– Einen grünen Salat als Vorspeise für mich, sagte Jean-Claude.
Tony nickte und ließ sie allein.
– Lange her, sagten sie beide wie aus einem Munde, und das Lachen brach das Eis. Obwohl – welches Eis, dachte Martine, das hier war ja kein romantisches Rendezvous, sondern eine Verabredung mit einem Zeugen.
Sie nippte
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