Die Gruben von Villette: Kriminalroman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
konzentrieren. Sie zog die Mappe heraus, die sie in die Vordersitztasche gesteckt hatte, und sah das Programm des ersten Tages durch: Willkommensdrink im Hotel, Besuch in den Brüsseler Büros einiger schwedischer Kommunen, Abendessen mit Lobbyisten aus schwedischen Regionen und Kommunen. Es würde interessant werden zu sehen, wie sie arbeiteten, dachte sie. Sie hatte sich schon in die Regeln für Regionalfördergelder eingelesen und gesehen, daß für Hammarås einiges zu holen sein müßte. Sie wußte viele Projekte, die mit etwas Starthilfe am Anfang in einigen Jahren florieren könnten.
Der Druck in den Ohren begann sich zu ändern. Das Flugzeug war beim Landeanflug. Als es aus den Wolken auftauchte, sah sie jenseits des Fensters das Meer und einen langen Streifen weißen Strand, wo die Nordsee auf Land traf, und während das Flugzeug hinunter nach Brüssel sank, fiel das letzte Puzzleteil an seinen Platz, legte sich säuberlich zurecht und machte das ganze Motiv sichtbar.
Das, was sie plötzlich klarsehen ließ, war die plötzliche Erinnerung an eine Ansichtskarte, die ihr Bruder Börje einmal vor langer Zeit bekommen hatte, ein Foto von einem sonnigen Sandstrand mit einem kryptischen Gruß auf der Rückseite. Börje hatte gelacht, als sie gefragt hatte, wer sie geschickt habe. Und sie konnte ihn nicht noch einmal fragen. Ihr Bruder war vor der Zeit gestorben, gebrochen von Alkohol und Heimweh, als er als Dauerpendler in Stockholm angefangen hatte, nachdem er den Job in der Grube losgeworden war.
Aber Fragen war nicht nötig. Sie sah jetzt alles deutlich, ein Bild, so beunruhigend und unwahrscheinlich, daß sie sich fragte, wie sie sich überhaupt zwei Tage lang auf den Kurs konzentrieren sollte.
Und was sollte sie tun, um ihren unglaublichen Verdacht entweder zu bestätigen oder zu entkräften, ohne in einer Situation, in der in Hammarås Jobs auf dem Spiel standen, unnötige Probleme zu schaffen? Sie sah mehrere mögliche Vorgehensweisen, und sie wog sie gegeneinander ab, während das Flugzeug landete und anfing, auf die Flugplatzgebäude zuzurollen. Direkt zur Sache kommen oder sich drumherummogeln? Es war wichtig, sich richtig zu entscheiden.
Sonst konnte es sehr übel ausgehen.Eine Telefonnotiz wartete auf Martine, als sie in den Justizpalast zurückkam. Jean-Claude Becker hatte sie sprechen wollen. Sie rief die Gewerkschaftsgeschäftsstelle bei Forvil an und bekam sofort den Gewerkschaftsvorsitzenden an die Strippe.
– Hallo, Martine, sagte er, darf ich dich heute abend zum Essen einladen, oder wäre das unangebracht?
– Besonders unangebracht, antwortete sie erstaunt, ich bin ja mit einem Mordfall beschäftigt, der auch dich tangiert, wenn auch nur ganz peripher. Aber wir können uns vielleicht trotzdem treffen. Du willst wohl über etwas reden, das mit dem Mord zu tun hat?
– Vielleicht, sagte er, allerdings nichts, was ich im Moment zu Protokoll geben möchte. Aber du hättest Nutzen davon, mit mir über einem Happen ein paar Worte zu wechseln.
Sie verabredeten sich für sieben in der Blinden Gerechtigkeit. Der Gedanke an ein Abendessen mit Jean-Claude hob Martines Stimmung ebensosehr, wie sie der Gedanke an noch einen einsamen Abend im Haus in Abbaye-Village deprimiert hätte.
Ein paar Stunden später stand sie vor dem schlecht beleuchteten Spiegel neben dem Aktenschrank und betrachtete kritisch ihr Bild. Sie bürstete die Haare aus, korrigierte den Lippenstift, formte mit den Fingerspitzen die Augenbrauen und sprayte sich eine Parfümwolke über die Haare. Aus Gründen, denen sie besser nicht allzu viel Gewicht beimaß, wollte sie gut aussehen, wenn sie Jean-Claude Becker traf.
Jean-Claude war Sohn eines Stahlarbeiters aus Esch-sur-Alzette in Luxemburg. Martine war ihm zum ersten Mal 1979 in Liège begegnet, wohin sie gegen den Protest ihrerEltern gezogen war, um als Serviererin zu arbeiten und Geld für ihr Jurastudium zu sparen. Jean-Claude studierte Jura an der Universität von Straßburg, arbeitete aber im Sommer als Berater für die Stahlarbeitergewerkschaft in Liège. Sie hatten sich in dem Restaurant, in dem Martine servierte, kennengelernt, und Jean-Claude hatte sie recht bald eingeladen. Sie war gern mit ihm zusammen. Er hatte einen trockenen Humor, der sie immer zum Lachen bringen konnte, etwas, das sie nach den aufreibenden Konflikten mit der Familie brauchte, und eine selbstverständliche innere Sicherheit, die sie ruhig machte und bewirkte, daß er sich überall gut
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