Die Gruben von Villette: Kriminalroman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
hereinkam, klingelte das Telefon auf seinem Schreibtisch, und er hob ab.
– Christian, sagte eine heisere Stimme, Alain Desmets in Brüssel hier. Du hast doch einen in Frankreich zugelassenen grünen Renault gesucht? Wir haben ihn für dich gefunden.
Deshalb fuhr Christian am Freitag nicht zur Arbeit, sondern wurde am frühen Morgen zu Hause von einem Polizeiwagen abgeholt, der ihn direkt nach Brüssel fuhr. Er verabschiedete sich von Claudine, die an ihrem kleinen Schreibtisch saß und einen Stapel Rechnungen durchging, die Stirnüber der kurzen Nase konzentriert gerunzelt. Sie strich eine Strähne der dunklen Haare, die ihr ins Gesicht hing, beiseite und lächelte ihn an.
– Du kommst vermutlich spät nach Hause, sagte sie, oder kann ich mit dem Abendessen warten, bis du zurück bist?
– Du kannst wohl warten, bis ich komme, sagte er, die Sache dürfte nicht den ganzen Tag dauern.
Er winkte Claudine zu und stieg neben den jungen Fahrer ins Auto.
Christian glaubte, daß viele in ihm den schlimmsten Holzkopf des Justizpalastes sahen. Er hatte sich nie bestechen lassen und war nicht einmal in Versuchung geraten, es zu tun, er trank mäßig und pflegte in seiner Freizeit am liebsten Umgang mit seiner Frau. Er selbst fand, daß er ungewöhnliches Glück hatte. Aber er wußte, daß es Claudines Verdienst war, daß sie es geschafft hatten, ihre Ehe lebendig zu halten. Sie waren fünf Jahre verheiratet gewesen, und ihre beiden Kinder waren inzwischen im Kindergarten, als sie feststellte, daß sie es nicht aushalten würde, für den Rest ihres Lebens zu Hause zu sitzen und abends auf ihn zu warten. Sie hatte sich zu einem Kurs für Kleinunternehmer angemeldet, war dann bei einem Blumenhändler in die Lehre gegangen und hatte schließlich in Ixelles in Brüssel ihren eigenen Laden eröffnet. Als sie nach Villette zogen, hatte sie in einem kleinen Lokal in einer Seitenstraße neu angefangen. Es war besser gegangen, als sie sich hätte träumen lassen, und im Januar war sie mit ihrem Blumengeschäft in den neurenovierten Bahnhof in ein Lokal eingezogen, das viermal so groß war wie das, das sie bisher gehabt hatte. Inzwischen war sie abends ebenso beschäftigt wie er, und sie waren beide gleichermaßen begeistert, wenn sie einen Abend oder ein Wochenende zusammen verbringen konnten.
Sie näherten sich Brüssel, und Christian erklärte seinem Fahrer, wie er fahren sollte, um zur Polizeiwache an der Rue Marché au Charbon hinter der Grande Place zu kommen.
Er dachte noch einmal an das unwahrscheinliche Glück, aufgrund dessen Fabien Lenormands Auto gefunden worden war. Alain Desmets, Inspektor bei der kommunalen Polizei in Brüssel und ein alter Bekannter von Christian, hatte am Abend mit einem aufgeregten Engländer zusammengesessen, der seinen neuen BMW losgeworden war, und versucht, den verschwundenen Luxusschlitten auf der Liste der Autos zu finden, die die Polizei im Laufe des Tages abgeschleppt hatte. Da hatte er bemerkt, daß am Vormittag ein französischer Renault auf die Liste gesetzt worden war, und sich an die Nachforschung aus Villette erinnert, an die er sich nur erinnerte, weil er Christian kannte.
Alain Desmets stand bereit und wartete auf sie. Er und Christian waren gleich alt, aber während Christian Karriere gemacht hatte und Kommissar geworden war, hatte es Desmets nie weiter gebracht als bis zum Inspektor, und wie er auf dem gepflasterten Hof stand, sah er aus, als sei er allzu schnell gealtert. Sein grauer Anzug war knitterig, und er hatte die sandfarbenen Haare schräg nach vorn gekämmt, um einen zunehmenden kahlen Fleck auf dem Scheitel zu verbergen. Sein unmoderner Zahnbürstenschnurrbart hing traurig hinunter.
Christians Fahrer stieg aus dem Auto und hielt Desmets höflich die Tür zum Rücksitz auf.
– Servus, Christian, sagte Desmets, schön, dich zu sehen. Wie ist das Leben auf dem Land, ihr schiebt wohl eine ruhige Kugel, verglichen mit Brüssel?
– Klar, sagte Christian, aber der eine oder andere Mord passiert ja trotzdem.
Er nahm an, daß es seinem alten Kollegen nicht entgangen war, daß Christian zusammen mit Martine Poirot in weniger als einem halben Jahr erfolgreich zwei besonders spektakuläre Morduntersuchungen geleitet hatte.
– Ja, man hat dich ja in der Presse gesehen, sagte Desmets melancholisch, gute Arbeit. Da in Villette habt ihr natürlich Zeit, euch ordentlich auf eure schweren Untersuchungen zu konzentrieren. Hier in Brüssel muß man alles auf einmal machen –
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