Die Gruben von Villette: Kriminalroman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
bewegen. Sie wollte etwas finden, wohinter sie sich verstecken konnte. Hier drinnen können sehr leicht Unfälle passieren, Madame Poirot. Sie stand im Schatten der Walzenpaare, als sie hörte, wie die Tür zur Geschäftsstelle geöffnet wurde. Jean-Claude? Nein, das hier war jemand, der die Tür ebenso verstohlen öffnete und schloß wie sie selbst, jemand, der nicht gesehen werden wollte. Sie zog die Schuhe aus und schlich im Schatten der Walzwerke weiter. Derjenige, der durch die Tür hereingekommen war, gab keinen Laut von sich, aber sie konnte die Anwesenheit eines anderen Menschen wie eine unbestimmte Veränderung in der Luft spüren, vielleicht waren es ihre von Angst geschärften Sinne, die auf Absonderungen von Schweiß und Adrenalin reagierten.
Plötzlich stand sie an einer steilen Treppe, die zu einem Gang hoch oben unter der Decke hinaufführte. Sie lag im Schatten, und ohne zu überlegen, begann sie, die Schuhe in der Hand, hinaufzusteigen.
Sie bereute es sofort, als sie spürte, wie das Metallgitterder Treppe unter ihren Füßen vibrierte. Hatte sie Pech, würde die Treppe einen Klang wie ein E-Baß von sich geben, wenn sie darankam. Sie hielt auf halbem Weg nach oben inne und versuchte, sich, die Arme über dem Kopf, auf einer Treppenstufe zusammenzukauern. In ihrem schwarzen Kostüm würde sie in den Schatten unsichtbar werden.
Sie hörte da unten auf dem Zementboden langsame Schritte, sah aber niemanden. Der, der dort ging, war von den Walzwerken verdeckt, und das war gut, dann konnte er auch sie nicht sehen. Sie hielt den Atem an.
Nach einer Weile waren die Schritte nicht mehr zu hören, und sie hörte, wie die Tür geschlossen wurde. Er war gegangen – oder war das ein Trick, um sie hervorzulocken? Sie saß weiter auf der Treppe wie auf einem Rettungsfloß. Hier drinnen können sehr leicht Unfälle passieren, Madame Poirot.
Die Tür wurde erneut geöffnet. Die Schritte waren diesmal leichter, nicht mehr die schweren Arbeitsstiefel. Sie hörte eine Stimme, leise, aber unter der widerhallenden hohen Metalldecke dennoch durchdringend:
– Tina?
Es war Jean-Claude. Tina war einmal vor langer Zeit sein Name für sie gewesen. Sie begriff, daß er ihn jetzt benutzte, um sie nicht zu verraten, falls sie jemand hörte. Aber es schickte trotzdem eine kleine Welle von Wärme durch ihren Körper.
Sie stieg eilig hinunter und begegnete ihm mitten im Raum.
– Es war jemand hier, sagte sie, hast du jemanden gesehen?
Er schüttelte den Kopf.
– Nein, ich habe jemanden gehört, aber nichts gesehen. Vielleicht war es nur einer von der Putzkolonne, der kontrollieren wollte, wer sich hier eingeschlichen hat, technisch gesehen hast du hier ja nichts zu suchen.
Er hatte selbstverständlich recht. Sie schämte sich etwas für ihre Panik eben. Was hatte sie eigentlich gedacht?
– Konntest du die Kopie machen? fragte sie.
Er verzog den Mund.
– Nein, leider nicht. Lou war nicht gegangen, er war noch da und wühlte in seinen Aktenordnern herum. Ich mußte in aller Eile das Märchen zusammendichten, daß ich mich zur Einteilung der Männer am Ofen mit ihm verabreden wollte, nachdem er schon mal hier war. Der Staatsanwalt muß sich mit deinem Bericht über das Dokument begnügen.
– Oder deinem vielleicht, sagte sie und setzte sich auf die Schuhe, du mußt zumindest zum Justizpalast kommen und über deine Kontakte mit Fabien Lenormand berichten, das verstehst du doch?
Er nickte, den Blick zum hinteren Ende der Halle gerichtet. Er nahm ihren Arm und bewegte sich dorthin. Ganz hinten, in der Nähe von etwas, das wie ein hoher Ofen aussah, lagen viereckige lange Stahlstücke säuberlich gestapelt wie Holz.
– Billets, sagte Jean-Claude, Rohlinge für Armierungseisen, und ich meine, daß es hier beunruhigend wenige zu geben scheint, wird bei denen das Geld knapp? Es gehörte zur Vereinbarung, daß Berger Rebar, nachdem Berger das Werk gekauft hatte, einen Langzeitvertrag bekam und so die Stahlrohlinge zu sehr günstigen Bedingungen von Forvil kaufen konnte. Und das bedeutet, daß wir, wenn Berger Rebar das Handtuch wirft, plötzlich mit Überkapazitätenbeim Hochofen dastehen. Das war eines der Dinge, gegen die Morel Einwände hatte, er hatte die Idee, die Rohlinge statt dessen an Unternehmen zu verkaufen, die ihre Rohstahlkapazitäten reduziert hatten. Er hatte eine Menge vielversprechende Kontakte mit Unternehmen, die erheblich zuverlässigere Kunden zu sein schienen als Berger.
Die Telefonistin in der
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