Die Gruben von Villette: Kriminalroman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Charme«, sagte Jean-Claude, aber ich bin nicht ganz seiner Meinung. Er hat eine ganze Menge Charme, wenn er es darauf anlegt. Aber er ist Bergers Mann fürs Grobe, gar keine Frage, und bei Vélo Éclair tauchte er auf, als sie sich gerade entschlossen hatten, den Betrieb zu schließen, und es nur noch um Brennen und Plündern ging. Hier ist er schon etwas länger, und manchmal kann man mit ihm ganz vernünftigverhandeln, vor allem, wenn es um Arbeitsschutz geht. Ich nehme an, daß Berger ihm da freie Hand läßt. Er ist smart, aber seine Möglichkeiten sind begrenzt, vor allem, weil er so extrem an Berger gebunden ist. Entweder steht er in Dankesschuld zu Berger, oder Berger hat ihn in der Hand.
– Er hat ein Foto auf seinem Schreibtisch, sagte Martine, was ist darauf?
– Ein sehr hübsches Mädchen mit leicht asiatischem Aussehen, scheint in den siebziger Jahren aufgenommen worden zu sein, quer darüber hat jemand geschrieben »Immer Deine Li«. Ich habe ihn einmal gefragt, wer das ist, und er hat nur die Achseln gezuckt und gesagt, daß er sie früher einmal gekannt hätte.
– Und Berger, wie ist der?
– Ihm bin ich nur zweimal begegnet, sagte Jean-Claude, aber das reicht an und für sich. Der hat Charme; wenn du mit ihm redest, hast du das Gefühl, daß du der interessanteste Mensch bist, den er je kennengelernt hat, und genau in diesem Augenblick, glaube ich, findet er das auch. Aber wenn du ihm die Hand geschüttelt hast, ist es besser, nachher zu kontrollieren, ob die Hand noch da ist.
Er stand auf und schob vorsichtig die Tür ein paar Zentimeter auf.
– Jetzt ist er weg, glaube ich. Okay, ich schleiche rauf und sehe, ob ich das Papier kopieren kann, ohne daß mich jemand sieht. Aber du wartest hier.
Sie hörte seine Schritte die Treppe hinauf verschwinden. Sie setzte sich an den Schreibtisch, drehte den Stuhl um und dachte lange und ernst darüber nach, wie ihr Leben geworden wäre, wenn Jean-Claude nicht genau an dem Abend, an dem Chantal dort sang, in diesen Klub gegangen wäre. Vielleicht wäre alles ganz anders gekommen.
Sie sah auf ihre Armbanduhr. Der Sekundenzeiger kroch im Schneckentempo voran. Sie hatte das Gefühl, daß Jean-Claude schon eine Ewigkeit weg war. Wie lange konnte es dauern, ein einziges Papier zu kopieren?
Sie stand auf und gesellte sich zu der Stille und den Schatten im Treppenhaus. Unter der Stille waren wie ein dumpfes Vibrieren, ein langgezogener Baßton, die Geräusche vom Werkgelände zu ahnen.
War die Putzkolonne aufgebrochen, oder war sie noch da? Sie schob vorsichtig die Eingangstür auf und guckte hinaus. Nein, der dunkle Lieferwagen stand noch da. Sie hoffte, daß Jean-Claude keine Probleme bekommen hatte.
Plötzlich hörte sie hoch oben auf der Treppe Schritte. Aber das war nicht Jean-Claude. Er hatte beim Essen gewöhnliche Halbschuhe angehabt, aber das, was sie jetzt hörte, war das Geräusch schwerer, stahlbeschlagener Arbeitsstiefel.
Sie wollte nicht, daß sie hier jemand sah. In ihr hallten Louis Victors Worte früher am Tag wider – »hier auf dem Gelände können sehr leicht Unfälle passieren, Madame Poirot«. Sie versuchte, schnell und lautlos die Eingangstür zuzuziehen, aber der Türschließer hielt dagegen. Und die Schritte auf der Treppe näherten sich. Sie ließ die Tür los und lief, auf Zehenspitzen, damit ihre hohen Absätze nicht auf den Boden knallten, zur Gewerkschaftsgeschäftsstelle. Aber die Tür war ins Schloß gefallen und ließ sich nicht öffnen.
Sie sah sich auf dem Treppenabsatz um, ihre Hände begannen, vor Panik schweißnaß zu werden. Neben ihr war eine hohe, graulackierte Stahltür. Sie drückte auf die Klinke und spürte mit Erleichterung, daß die Tür nicht verschlossen war. Als sie gerade durch die Öffnung glitt, hörte sie,wie mit einem Knacken, das wie ein Pistolenschuß durch das Treppenhaus zu hallen schien, die Eingangstür zufiel.
Sie kam in eine hohe, stille Fabrikhalle, schwach beleuchtet von gedämpftem Nachtlicht. Es roch nach Öl und verbranntem Eisen. Ein gewaltiger Haken baumelte von einem Kran hoch oben an der Decke. Rechts sah sie eine Batterie hoher, grünlackierter Walzwerke, und weiter hinten in der Halle waren Maschinen zu sehen. Sie wußte nicht, wozu man sie brauchte, aber allein durch ihre Größe wirkten sie bedrohlich.
Wo sollte sie jetzt hin? Das einfachste wäre, einfach zu warten, bis Jean-Claude zurückkam, aber etwas brachte sie dazu, sich mit dem Rücken zur Wand tiefer in die Halle zu
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