Die Gruben von Villette: Kriminalroman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
nach Belgien gefunden hatte.
Er fand den Artikel in der Sonntagsbeilage vom 11. September. Die Überschrift war »Eine Epoche geht ins Grab. Letzte Grube im Erzland wird geschlossen«. Der Artikel war von einer Journalistin geschrieben, die, erinnerte sich Thomas vage, in den siebziger Jahren sehr geschätzt worden war, die aber jetzt meistens im Stockholm-Teil der Zeitung unterhaltsame Kolumnen über Prominente der Stadt schrieb. Hier hatte sie sich jedenfalls in einer epischen Schilderung ausbreiten dürfen, wie das Land, in dem die Hochöfen gelodert hatten und das Erz aus den Gruben ansTageslicht geholt worden war, jetzt in neuen Wellen industrieller Entwicklung brachgelegt wurde.
Ganz unten auf der Seite waren drei Gruppenbilder. Das ganz links zeigte eine Gruppe Grubenarbeiter von 1912. Es war unklar, warum sie verewigt worden waren. In der Mitte war das Foto einer Schicht zu sehen, die im März 1959 den Produktionsrekord geschlagen hatte. Ganz rechts folgten die Grubenarbeiter, die die allerletzte Erzladung abgebaut hatten, bevor die Grube geschlossen wurde, eine Handvoll Männer mit zerfurchten Gesichtern und grauen Schläfen unter den Helmen.
Es war das Bild von 1959, das Thomas’ Aufmerksamkeit auf sich zog. Er betrachtete die zweizeilige Bildunterschrift. Wenn man das Bild ausriß und dann die untere linke Ecke abriß, würde es genau mit dem Text auf dem Fragment übereinstimmen, das der ermordete Mann in Villette in seiner erstarrten Hand gehalten hatte.
Die Grubenarbeiter auf dem Bild lächelten in die Kamera, stolz auf ihre Leistung. Die meisten von ihnen sahen jung aus, mit glatten Wangen unter Helmen und Grubenlampen.
Thomas stutzte vor dem Namen in der Bildunterschrift. Nummer fünf von links in der oberen Zeile; er ließ den Finger über das Bild laufen und stoppte beim richtigen Mann. Sehr jung, der Helm im Nacken, ein breites Lächeln mit einem Anflug von Arroganz.
Da war Istvan, der ungarische Flüchtling und Grubenarbeiter, der früher einmal einen solchen Eindruck auf seine Großmutter und seine Schwester gemacht hatte. Sophie zufolge hatte er einen »komplizierten ungarischen Nachnamen mit jeder Menge Konsonanten« gehabt, aber seine Schwester hatte übertrieben wie gewöhnlich, dachte Thomas.So schwierig war der Name nicht. Der Mann, der mit Greta geflirtet und mit Sophie Illustrierte Klassiker gelesen hatte, hieß Juhász. Istvan Juhász.
Am Nachmittag fuhr Annick Dardenne mit einem Fax aus Granåker nach Foch-les-Eaux hinaus. Martine Poirots Mann hatte im Justizpalast angerufen, um zu berichten, daß er das Zeitungsfragment, das Fabien in der Hand gehabt hatte, identifiziert hatte. Julie Wastias Beurteilung zufolge war es wichtig, die neuen Informationen schnell in die Untersuchung einzubringen, und weil sowohl Martine als auch Christian de Jonge nach Brüssel gefahren waren, hatte sie Thomas mit Annick verbunden, die gerade mit ihrem Durchgang von Fabien Lenormands Kartentransaktionen fertig war.
Annick hatte noch nie mit Thomas Héger gesprochen, aber sie hatte sein Buch gelesen, und es gefiel ihr. Sie hatte oft gedacht, daß Martine Poirot großes Glück hatte, weil sie einen Mann gefunden hatte, der nicht nur akzeptierte, daß seine Frau Karriere machte, sondern der auch attraktiv und begabt war. Annick selbst hatte vor allem schlechte Erfahrungen. Bestimmte Erlebnisse während ihrer Teenagerzeit als Modell in Paris hatten sie ernstlich darüber nachdenken lassen, auf Männer ganz zu verzichten, aber ganz so weit war sie nicht gegangen. Es kam vor, daß sie ausging, geschminkt und in Schale geworfen, und sich für eine Nacht aufreißen ließ. Aber dann hielt sie sich fern von Villette.
– Könnten Sie das Bild hierherfaxen? sagte sie eifrig zu Thomas Héger.
– Sicher, sagte er, aber ich fürchte, daß es eine Weile dauern kann. Ich muß zuerst ein Fax suchen, und meine Schwester ist mit dem Mietwagen weggefahren … nein, wartenSie, ich glaube, sie kommt jetzt zurück. Okay, dann fahre ich los. An welche Nummer soll ich das Bild schicken?
Annick gab ihm die Faxnummer und hielt sich die Daumen. Während sie wartete, ging sie hinauf zu Julie Wastia im dritten Stock und sah die Akte über den Mord an Fabien Lenormand durch. Julie hatte gerade den Bericht über den Besuch bei Berger Rebar geschrieben, und sie hatte Louis Victors unheilverkündende Abschiedsworte zitiert.
– Mein Gott, sagte Annick, das hier ist ja fast eine offene Drohung!
– Ja, stimmte Julie bei, und
Weitere Kostenlose Bücher