Die Gruben von Villette: Kriminalroman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
bat den Kellner, sich um das zerbrochene Glas zu kümmern, und verschwand durch die Drehtür in die Küche.
Nach ein paar Minuten kam sie zurück. Annick beobachtete die Frau, die zwischen den Tischen auf sie zukam. Wenn sie vor bald vierzig Jahren Istvan Juhász’ Freundin gewesen war, mußte sie jetzt um die sechzig sein, aber sie hatte immer noch die weidenschlanke Figur eines jungen Mädchens, hervorgehoben durch schwarze Jeans und einen enganliegenden, gestreiften Pulli.
– So, sagte Suzanne Tavernier und ließ sich Annick gegenüber nieder. Sie wollen über Istvan reden, haben Sie gesagt. Oder Pisti, alle nannten ihn so, aber er zog Istvan vor, das klang erwachsener, fand er. Ist er wieder aufgetaucht? Irgendwie habe ich immer geglaubt, daß er eines Tages wieder auftaucht.
– Deshalb bin ich hier, sagte Annick, Nunzia Paolini sagte, Sie hätten immer daran gezweifelt, daß Istvan Juhász bei dem Unglück 1956 gestorben ist, und ich möchte gern wissen, warum. Sein Name ist in einer Untersuchung aufgetaucht, an der wir arbeiten, aber wir wissen nicht genau, welche Rolle er spielt. Nunzia Paolini hat gesagt, daß Sie 1956 seine Freundin waren?
Suzanne Tavernier lächelte schief.
– Hat sie das gesagt, ja, das kann man so sagen. Ich selbst hätte dieses Wort kaum benutzt. Ich war damals dreiundzwanzig, verstehen Sie, und ich war schon Witwe. Ich war erst achtzehn, als ich geheiratet habe, und drei Jahre später starb mein Mann bei einem Verkehrsunfall. Ich habe natürlich getrauert, aber bald erkannt, daß es recht viele Vorteile hat, sein eigener Herr zu sein und über sein eigenes Geld zu verfügen.
– Aber etwas habe ich vermißt nach der Ehe, und das war … ja, das eheliche Zusammenleben, wenn Sie verstehen, was ich meine. Und es war nicht so leicht, in Foch-lex-Eaux daran etwas zu ändern. Ich wollte absolut nichts mit verheirateten Männern zu tun haben, so etwas billige ich nicht, und die italienischen Jungens waren hübsch, aber so konservativ und katholisch, daß man sich im Dunkeln fürchtete, der kleinste Kuß, und sie meinten, man sei die Hure Babylons. Aber dann habe ich Istvan kennengelernt. Er war Ungar, wie Sie vielleicht wissen, und er kam aus einer protestantischen Familie, deshalb war er wohl anders. Er war erst siebzehn, aber reif in jeder Hinsicht, und wir fingen ein Verhältnis an. Ich arbeitete damals in einem Café, und ich versorgte ihn mit Frühstück und Proviant und Wäsche. Aber das war es wert.
Sie lächelte träumerisch.
– Wohnte er schon lange in Foch-les-Eaux? fragte Annick.
– Ziemlich lange, glaube ich, sagte die andere Frau, seine Familie kam direkt nach dem Krieg, als die Kommunisten die Macht in Ungarn übernahmen, hierher. 1948 vielleicht oder 1949, sein Vater bekam hier einen Job als Grubenarbeiter. Es gab mehrere ungarische Familien hier. Istvan hatte einen Onkel, der in derselben Baracke wohnte.
– Und Istvan fing schon mit siebzehn an, in der Grube zu arbeiten, sagte Annick.
– Ja, sagte Suzanne Tavernier, sein Vater starb, als er vierzehn war, deshalb mußte er arbeiten. Kati, seine Mutter, nahm Schneiderarbeiten an, sie war eine sehr tüchtige Schneiderin. Aber das reichte ja nicht weit. Und sie starb 1955 an einer Art Lungenschwindsucht.
– Istvan war also allein auf der Welt, sagte Annick.
Suzanne Tavernier nickte.
– Ja, bis auf den Onkel, aber mit dem stritt er sich meistens.
– Okay, sagte Annick, dann kommen wir zur Sache. Sie haben daran gezweifelt, daß Pisti Juhász bei dem Grubenunglück umkam, und geglaubt, daß er wieder auftauchen würde. Warum?
– Da waren mehrere Dinge, sagte die andere Frau langsam, und in erster Linie war es die Wäsche. Ich hatte für ihn gewaschen und gab ihm das Paket mit den sauberen Kleidern genau an dem Tag, als die Katastrophe sich ereignete. Ich erinnere mich sehr gut daran, er war spät dran an diesem Tag und hatte keine Zeit, hereinzukommen und zu frühstücken, deshalb mußte ich reingehen und ihm das Paket holen, bevor er losradelte. Aber danach waren die sauberen Kleider verschwunden. Er hätte sie doch im Umkleideraum lassen müssen, bevor er in die Grube einfuhr, oder er hätte sie im Fahrradkorb vergessen können, aber sie waren nirgends. Nach der Katastrophe wurden Kleider und Bedarfsartikel für die Angehörigen der toten Grubenarbeiter gesammelt, und ich dachte, daß man Istvans saubere Kleider brauchen könnte. Besonders zwei Hemden, die seine Mutter genäht hatte, waren in sehr gutem
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