Die Gruben von Villette: Kriminalroman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Zustand. Aber sie waren nicht zu finden.
Annick runzelte die Stirn. Sie verstand nicht ganz, wie Suzanne Tavernier dachte und wie das verschwundene Paket mit Wäsche darauf hindeuten konnte, daß Istvan Juhász die Katastrophe überlebt hatte.
– Doch, das ist doch klar, sagte Suzanne Tavernier eifrig. Er hatte sich umgezogen, um in die Grube einzufahren, das steht fest, denn seine Alltagskleider hingen im »Saal der Gehenkten«. Er konnte ja nicht in Grubenarbeiterkleidung verschwinden, aber er hatte die Kleider zum Wechseln, die er anziehen konnte, und deshalb war das Paket weg.
– Aber warum sollte er verschwinden?
– Oh, sagte Suzanne Tavernier, er hatte überall Schulden, der arme Junge. Außerdem war meine Periode verspätet, und ich glaubte, daß ich vielleicht ein Kind erwartete, aber Istvan war wohl nicht so erpicht darauf zu heiraten. Ich glaube, er sah eine Chance, neu anzufangen, ohne Schulden und Familienbande. Seine Familie hatte ja schon einmal in einem neuen Land von vorn angefangen.
– Glauben Sie also, daß er Belgien verlassen hat? fragte Annick.
Die andere Frau zuckte die Achseln.
– Ja, das kann ich mir vorstellen, sagte sie, Frankreich vielleicht oder Deutschland. Oder Italien, er konnte ziemlich gut Italienisch, nachdem er mit italienischen Familien mehrere Jahre die Baracke geteilt hatte. Aber ich bin sicher, daß er auf die Füße gefallen ist, wo immer er gelandet ist, er war dieser Typ. Mehrere Jahre habe ich tatsächlich darauf gewartet, daß er wieder auftauchen würde. Es ist sogar ab und zu vorgekommen, daß ich meinte, ihn im Fernsehen gesehen zu haben. Und wenn Sie es wissen wollen, ein Kind ist nicht gekommen. Ich habe ein paar Jahre später wieder geheiratet, aber wir haben uns nach fünf Jahren getrennt.Ich hatte wohl Geschmack an der Freiheit gefunden. Aber ich denke manchmal an Istvan und frage mich, wie es geworden wäre, wenn die Grube an diesem Tag nicht explodiert wäre, ob wir geheiratet hätten und wie es gegangen wäre.
Um das Zeitungsbild nach Villette zu faxen, war Thomas nach Hanaberget gefahren, und er hatte Glück gehabt. Die kleine Bibliotheksfiliale im Folkets Hus von Hanaberget war offen, und dort gab es ein Telefax, das er gegen eine bescheidene Abgabe von fünf Kronen benutzen konnte.
Aber die Qualität eines gefaxten Zeitungsfotos würde erbärmlich sein, dachte er, als er den Zeitungsausschnitt durch das Fax gleiten sah. Er fragte sich, wo das Originalfoto war. Wenn er es auftreiben könnte, könnte er es nach Villette schicken, vielleicht zuerst in ein Fotogeschäft gehen und es vergrößern lassen, so daß man die Gesichter deutlich sehen konnte.
Oder er könnte sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern, Korrektur lesen und nach seiner kranken Großmutter sehen.
Hatte Martine nicht etwas komisch geklungen, als er gestern abend angerufen hatte? Es war etwas in ihrer Stimme gewesen, das in ihm danach ein vages Gefühl von Unruhe hinterlassen hatte.
Er kannte Martine so gut, daß er die geringste Veränderung in ihrer Stimme wahrnahm, hörte, wenn sie versuchte, etwas zu verbergen, oder etwas anderes meinte als das, was sie sagte. Gestern hatte er sich von den Bildern, die er vor seinem inneren Auge heraufbeschworen hatte, bevor er anrief, ablenken lassen – Martine, die blonden Haare offen und mit bloßen Füßen, zusammengekauert in der Sofaeckemit dem Frotteemorgenmantel offen über dem dünnen Nachthemd, nachdenklich an ihrem Weinglas nippend.
Aber als er jetzt daran dachte, wie sie geklungen hatte, war ihm klar, daß etwas nicht stimmte. Es hatte eine Spannung in ihrer Stimme gegeben, als habe sie … Angst? Ja, Martine hatte ängstlich geklungen.
Das war sehr verständlich, dachte er, sie hatte in kurzer Zeit zwei schwierige Morduntersuchungen gehabt, mit denen sie sich selbst in Lebensgefahr gebracht hatte, und jetzt war sie vielleicht wieder soweit. Da war es nicht lustig, abends allein zu Hause im Dunkeln zu sitzen. Er entschloß sich, schnell nach Hause zurückzukehren, sobald er einen Flug fand, der ihn nicht ruinieren würde. Sophie konnte bei Greta bleiben.
Neben der Ausleihe der Bibliothek gab es eine kleine Leseecke mit Zeitungen und Zeitschriften.
Dort saß ein Mann in den Siebzigern und blätterte in einer der Reichszeitungen. Die untersetzte Gestalt und der scharfe, hellblaue Blick hinter der Lesebrille kamen ihm bekannt vor. Thomas ging zu ihm hin und streckte die Hand aus.
– Hej, sagte er, du bist Tyre Myråsen,
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