Die Gruben von Villette: Kriminalroman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
jung war Istvan gewesen, dachte sie. Dem Kind Sophie war er wie ein Erwachsener erschienen, aber er war nur ein Teenager gewesen, ein Junge, gezeichnet von Krieg und schwerer Arbeit und mit Träumen, von denen er nicht wußte, wie er sie verwirklichen sollte. Sie fragte sich, was aus ihm geworden war. Er hatte etwas von einem Schwindler gehabt, das sah sie jetzt. Sie erinnerte sich, wie schockiert sie gewesen war, als er aus dem Silberkasten in der Bibliothek eine Handvoll der eigens für den Großvater bestellten türkischen Zigaretten an sich genommen hatte.
– Der merkt nie was, hatte Istvan gesagt und ihr zugeblinzelt.Sie hatte ihn nicht verraten; Sagesse, die rätselhafte Sängerin, konnte ja nicht gut zu ihrem Großvater gehen und petzen. Dadurch hatte sie sich verwegen und zugleich schlecht gefühlt.
Aber jetzt reichte es mit der Nostalgie. Sie nahm ihre schon vollgekritzelte englische Pocketausgabe von »Othello« heraus, sie las Shakespeare am liebsten in der Originalsprache, und das Notizbuch, in dem sie ihre Ideen zu skizzieren begonnen hatte.
Das Stück war kein Eifersuchtsdrama, dachte sie. Othello erwürgt Desdemona nicht in einem unkontrollierten Ausbruch eifersüchtiger Raserei – im Gegenteil, er muß sich zwingen, es zu tun, als wäre es eine schwere Pflicht. Sie dachte daran, was sie von einer türkischen Schauspielerin gehört hatte, der sie auf einem Festival in Istanbul begegnet war, und sie dachte an den Othello des Dramas, aufgewachsen in Militärlagern und geformt in einer hierarchischen Machokultur. Sicher war er auch Kindersoldat gewesen? Sie blätterte, fand die Stelle und las eifrig die Worte: »For since these arms of mine had seven years’ pith / Till now some nine moons wasted they have used / Their dearest action in the tented field.« Genau, dachte sie, er war im Prinzip ununterbrochen im Feld gewesen, seit er sieben war, bis auf diese letzten neun Monate, in denen er sich in Venedig, dem Zentrum der militärischen und ökonomischen Großmacht des östlichen Mittelmeers, hat herumreichen lassen. Er hat neue Menschen und Gedanken kennengelernt …
Ihre Idee begann, Form anzunehmen. Sie war irritiert, als das Telefon klingelte, und erstaunt, als es Thomas war.
– Ich habe schlechte Nachrichten, sagte er schwer, sehr, sehr schlechte. Sitzt du, Sophie?
Sie sank auf einen Stuhl, den Hörer in der Hand, währendihr Herz raste. Sie sah die raschen Pulsschläge am Handgelenk, es sah aus, als wäre ein unruhiges kleines Tier unter der Haut. Was konnte es sein? O Gott, nur nichts mit Daniel, dachte sie, was auch immer, aber nicht Daniel.
– Es ist Birgitta, sagte Thomas, sie ist tot, Sophie. Birgitta ist tot.
Sie brach vor Erleichterung beinah in Lachen aus.
– Nein, nein, sagte sie, Birgitta wollte doch nach Villette, hast du das vergessen? Ich habe gestern mit Tony geredet, er wollte ein Spezialmenü für sie machen. Sie ist jetzt sicher in Villette.
– Sie ist tot, wiederholte Thomas, sie starb vor ein paar Stunden in Villette, und, Sophie, sie wurde ermordet. Martine leitet die Voruntersuchung. Jetzt muß es jemand ihrer Familie sagen, du kennst ihre Kinder, oder? Es ist besser, sie hören es von dir, als daß jemand vom Außenministerium oder von der Botschaft in Brüssel anruft.
– Wie ist das passiert? fragte Sophie, jetzt froh, daß sie saß, es war ein Gefühl, als ob das Blut aus dem Kopf wich, so daß sie einer Ohnmacht nahe war, aber sie schaffte es, sich aufrecht zu halten, während Thomas erzählte, was er wußte.
Als sie das Gespräch beendet hatten, legte sie sich auf den Boden und versuchte, ihren flachen Atem zu beruhigen. Es ist meine Schuld, dachte sie irrational, ich hätte nicht »Macbeth« zitieren sollen, Birgitta hat Angst bekommen, sie sagte, sie hatte ein Gefühl, als ob jemand über ihr Grab geht.
Sie stand auf und fing an, in der Bibliothek auf und ab zu gehen. Wie sollte sie Birgittas Kindern eine solche Nachricht überbringen können? Und wo sollte sie sie finden, sie wußte nicht einmal, wo sie wohnten.
Sophie wußte sehr gut, daß sie eine kühle Person war,eine Beobachterin, die selten andere Menschen in den innersten Raum ihres Herzens ließ, aber Birgitta Matsson gehörte zu den wenigen, die ihr richtig nahegekommen waren. Sophie war von Eskil Lund frisch geschieden gewesen, als sie sie in der Frauengruppe von Hammarås Birgitta kennengelernt hatte, alleinstehend mit einem kleinen Sohn und verletzbarer und unsicherer, als sie es früher
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