Die guten Frauen von Christianssund: Sommerdahls erster Fall (German Edition)
eine ganz normale gynäkologische Untersuchung bei Lilliana, weil sie Blutungen hatte. Ich sagte zu, ich konnte einfach nicht anders. Lilliana befand sich in einem ungewöhnlich erbärmlichen Zustand. Sie war verdreckt und unterernährt, hatte Geschwüre und offene Wunden. So verwahrloste Menschen sieht man in einem Vorzeigeort wie Christianssund sehr selten. Sie sah aus, als hätte sie monatelang auf der Straße gelebt. Lilliana blutete, weil sie unglücklich gefallen war, nichts Alarmierendes, und doch schlimm genug. Sie brauchte einige Tage Ruhe.« Regitze schloss die Augen. »Wir freundeten uns an. Und als sie mir dann anvertraute, dass sie das Kind nicht behalten wollte und überlegt hatte, es irgendwo abzulegen, wo man es finden würde, traf ich einen Entschluss. Ich bot ihr an, eine Familie für das Kind zu finden, um die ganze Findelkind-Routine zu vermeiden. Sie war mir sehr dankbar dafür. Als sie einige Monate später ihr Kind bekam, habe ich ihr als Hebamme geholfen. Hinterher nahm ich den Jungen mit nach Hause und gab ihn Nanna. Lilliana hat nie wieder nach ihm gefragt.«
»Aber haben sich die Leute nicht gewundert? Was war mit den Nachbarn und Kollegen?«
»Lillianas Nachbarn wussten genau, dass man nicht zu viele Fragen stellen durfte. Das Haus in der Jernbanegade steckt voller Geheimnisse.«
»Und Ihre Nachbarn? Und Nannas? Wahrscheinlich wussten sie doch, dass Nanna das Kind nicht selbst bekommen hatte.«
»Wir haben gesagt, Tobias sei adoptiert. Und das war ja nicht mal ganz falsch. Tatsächlich fragen die Menschen weniger, als man glaubt. Eher hieß es: ›Ja, mein Gott, Nanna, wie schön für dich! Was für ein süßer Junge! Sei froh, ihn so jung bekommen zu haben. Ich wusste ja nicht mal, dass du dich beworben hattest. Und keinen Ton hast du gesagt. Herzlichen Glückwunsch!‹ Es gibt niemanden, der in einer solchen Situation nach Papieren fragt, und wenn … Ich selbst habe eine Geburtsurkunde mit dem Namen meiner Tochter als Mutter und ›unbekannt‹ im Feld für den Namen des Vaters ausgefüllt. Auch bei den Behörden hat sich niemand gewundert. Warum auch? Ständig werden Kinder geboren, und man geht doch zu Recht davon aus, dass die Leute nur Kinder angeben, die von ihnen selbst stammen. Sonst hätte man doch hin und wieder von biologischen Eltern gehört, die Ansprüche erheben.«
»Freunde und Nachbarn glauben also, dass er adoptiert ist, die Behörden sind der Meinung, er ist bei seiner biologischen Mutter.« Dan schaute eine Weile in die beiden Gesichter vor ihm. Zwei Gesichter, zwei Augenpaare, die jede Veränderung in seiner Mimik registrierten. Er hatte keinen Zweifel, was in diesem Fall das Richtige war. Natürlich sollte Tobias bei Nanna bleiben, der einzigen Mutter, die er je kennengelernt hatte. Aber würden die Behörden ebenfalls dieser Ansicht sein? Und konnte er sich auf den korrekten Beamten Flemming Torp verlassen, wenn er es je erfuhr? Dan wusste es ehrlich gesagt nicht.
»Ich habe noch zwei weitere Fragen zu Tobias.« Ihre Köpfe nickten gleichzeitig. »Sie sind wirklich ganz sicher, dass Lilliana Sie nie gebeten hat, ihren Sohn zu sehen?«
»Absolut. Und solange sie nicht nach ihm fragte, habe ich ihr selbstverständlich auch nichts erzählt. Sie musste vergessen, dass sie ein Kind geboren hatte. Er gehörte zu ihrem alten Leben, dem Leben, vor dem sie geflohen war. Sie hat mir nie erzählt, wer der Vater war, und die Wahrheit ist vermutlich, dass sie es entweder selbst nicht wusste oder sehr gewichtige Gründe hatte, es zu verdrängen. Die arme Lilliana. Sie konnte ja nicht wissen, dass der Junge ihr so ähnlich sehen würde.«
»Das ist wirklich so. Ich habe jedenfalls keine Sekunde gezweifelt, als ich ihn sah.« Dan räusperte sich. »Vermutlich beleidige ich Sie mit meiner letzten Frage, aber ich muss sie dennoch stellen: Sind Sie bereit zu schwören, dass Sie Lilliana Tobias nicht mit Geld abgekauft haben?«
Nanna schnappte nach Luft, sagte aber nichts. Sie war offenbar gewohnt, ihre Mutter für sich antworten zu lassen.
»Nicht auf eine Weise, die Sie mir unterstellen.« Regitzes Augen wurden hinter den starken Brillengläsern zu zwei schmalen Strichen. »Ich habe ihr zehntausend Kronen in bar gegeben, was sicher eher ein symbolischer Betrag im Vergleich dazu ist, was neugeborene Babys in der großen weiten Welt angeblich kosten. Ich wusste, dass Lilliana jede Woche, die sie an ihrem Arbeitsplatz fehlte, zweitausend Kronen als Lohn einbehalten wurden.
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