Die guten Frauen von Christianssund: Sommerdahls erster Fall (German Edition)
auf das Display. »Hej, Waage! … Habt ihr’s? … Hat er alles übersetzt? … Und es war Estnisch? … Ja … Gut. Kannst du’s mir vorlesen?« Er klemmte sich das Telefon zwischen Ohr und Schulter, griff nach seinem Kugelschreiber und einem Stück Papier und machte sich Notizen, während Pia Waage las. Als sie fertig war, dankte er ihr und versprach, in einer Stunde auf dem Präsidium zu sein. Er legte das Telefon beiseite und überflog seine Notizen, bevor er den Kopf hob und Dan ansah. »Der Dolmetscher hat die Übersetzung von Lillianas Geschichte aus René Holgersens kurzem Kampagnenfilm gemailt.«
»Und?«
»Ihre Geschichte ist ein bisschen anders als die von Sally und Jo. Sie war keine Prostituierte, wenn man dem glauben darf, was sie im Film erzählt.«
»Ach ja?«
»Sie kam ursprünglich ganz legal hierher, mit einer Aufenthaltserlaubnis für ein Jahr und allem, was dazugehört.« Flemming blickte wieder auf seine Notizen und schüttelte dann langsam den Kopf. »Das ist schon eine merkwürdige Geschichte, Lilliana kam als Au-pair-Mädchen vor zweieinhalb Jahren nach Dänemark. Sie hatte keine leichte Kindheit … verwahrlost … Jugendheim … Drogenmissbrauch … Als Jugendliche geriet sie offenbar in richtig schlechte Gesellschaft und musste zusehen, dass sie so schnell wie möglich aus Tallinn wegkam. Ihr Hauptziel als Au-pair-Mädchen war es, einen Mann zu finden und ihn zu heiraten, damit sie hier im Land bleiben konnte. Sie ging davon aus, dass es nicht schwer sein würde. Sie bekam ihren Job durch eine Agentur in Tallinn. Ihr wurde gesagt, sie hätte leichte Hausarbeiten zu erledigen und sich um zwei Kinder im Alter von zwei und vier Jahren zu kümmern. Der Ältere kam sogar erst um zwei aus dem Kindergarten, es schien also durchaus überschaubar zu sein. Aber kaum war sie eine Woche im Haus, erklärte man ihr, dass sie sich um zwei weitere kleine Kinder zu kümmern habe. Die Dame des Hauses hatte ein paar Freundinnen, die ebenfalls für einige Stunden am Tag einen Babysitter brauchten. Plötzlich hatte Lilliana die Verantwortung für vier kleine Kinder und musste erkennen, dass mit leichten Hausarbeiten Waschen, Bügeln und der gesamte Hausputz gemeint war. Alles für zweitausendfünfhundert Kronen im Monat, plus Kost und Logis.«
»Das ist der Tarif, soweit ich mich erinnere«, sagte Dan, ein wenig irritiert. Er und Marianne wären damals, als Laura und Rasmus noch klein waren, ohne ihr Au-pair-Mädchen nie klargekommen.
»Ja, aber doch nicht dafür, dass man auch noch auf die Nachbarskinder aufpasst?« Flemming fuhr fort: »Egal, Lilliana schaffte es. Sie hatte sogar eine Affäre mit dem Herrn des Hauses; offenbar in dem Glauben, er würde sich von seiner Frau scheiden lassen und sie heiraten. Erst als sie schwanger war, wurde ihr klar, dass er überhaupt nicht daran dachte. In ihrer himmelschreienden Naivität beschwerte sie sich bei seiner Frau. Als Reaktion schmiss sie Lilliana raus, ohne Geld, ohne Papiere, ohne sehr viel mehr als die Kleider, die sie am Leib trug. Sie hätte sich natürlich an das Büro wenden können, das ihr die Stelle beschafft hatte, oder vielleicht auch an die Botschaft ihres Landes, aber sie wollte nicht riskieren, nach Hause geschickt zu werden. Sie wohnte ein paar Monate auf der Straße, bis sie eine Freiwillige von der Heilsarmee traf, die das Netzwerk in Christianssund kannte. Sie trampte hierher, und den Rest kennen wir. Mit dem Kind wurde es offenbar nichts, vielleicht war es auch nur falscher Alarm, oder … Was ist?«, er sah Dan an, der plötzlich einen Hustenanfall bekommen hatte. »Soll ich dir auf den Rücken klopfen?«
Dan schüttelte den Kopf und hob abwehrend eine Hand.
»Okay.« Flemming blickte auf seine Papiere. »Das war Lillianas Geschichte. Nicht dass sie uns wesentlich klüger werden ließe.«
»Ich bin ziemlich sicher, dass sie sowohl René als auch jemand anderem, den ich kenne, erzählt hat, sie habe sich prostituiert, bevor sie hierherkam«, sagte Dan, als er seine Atmung wieder unter Kontrolle hatte.
»Klingt eigenartig«, erwiderte Flemming.
»Vielleicht ist die Erklärung ganz einfach. Vielleicht hat sie sich dafür geschämt, sich in eine solche Situation gebracht zu haben. Ich meine, alle ihre Freundinnen und Bekannte sind mehr oder weniger gekidnappt und gegen ihren Willen ins Land geschleppt worden. Sie ist freiwillig gekommen, mit der törichten und naiven Vorstellung, dass ihr das Glück auf einem Silbertablett
Weitere Kostenlose Bücher