Die guten Frauen von Christianssund: Sommerdahls erster Fall (German Edition)
zu hängen, um sofort mit ihr reden zu können, falls sie zu Bewusstsein kommen sollte.
»Und der Audi? Was ist mit dem Wagen?«, hörte Dan sich fragen.
Flemming sah ihn betrübt an, ohne zu antworten.
»Hm«, brummte Dan. »Tja, ich hätte ihn am Montag ohnehin zurückgeben müssen.«
Der zweite Anruf kam von Hauptkommissar Hanegaard. Er war höchstpersönlich zu Lone Willumsen gefahren, in Begleitung eines uniformierten Beamten und mit einem Haftbefehl.
»Was hat sie gesagt?«, erkundigte sich Flemming.
»Dass wir alle Lügner sind und sie uns verklagen wird.«
»Nun ja. Das wird kein freundliches Verhör. Aber alles zu seiner Zeit. Danke für den Einsatz, Hanegaard.«
»Ist doch selbstverständlich, wir hätten doch keinen einfachen Beamten losschicken können, um seine Vorgesetzte zu verhaften, oder?«
Flemming brach das Gespräch ab und blieb einen Moment schweigend sitzen, bevor er wieder aufblickte. »Eine schöne Theorie, Dan, ich möchte mir trotzdem das Recht vorbehalten zu überprüfen, was Lone Willumsen am Montagabend gemacht hat.«
»Da mische ich mich nicht ein.«
Als Curt Loos eine Viertelstunde später Bøgebakken hinauffuhr, hatte er miserable Laune. Er war gereizt. Seine hochnäsige kleine Schwester hatte nicht nur seinen wichtigsten Mitarbeiter umgebracht, sondern ihn auch noch zu dieser Tagesreise gezwungen, weil sie nicht wusste, wie sie die Leiche loswerden sollte. Und seine Laune verbesserte sich nicht gerade, als das Miststück dann noch nicht einmal an ihr Telefon ging. In der letzten halben Stunde hatte er mehrfach versucht, sie auf ihrem Handy zu erreichen, und auch Nachrichten auf dem Anrufbeantworter hinterlassen. Schließlich hatte er die Hoffnung auf eine telefonische Wegbeschreibung aufgegeben; er musste sich in der Stadt bei Passanten durchfragen, was völliger Wahnsinn war. Wenn die Polizei je davon erfahren sollte, gäbe es so viele Zeugen, dass sie mit den Aussagen ihr Revier tapezieren könnten. Und wenn nur einer von ihnen richtig hingesehen hatte, würde die Personenbeschreibung die Polizei direkt zum richtigen Mann führen. Denn Curt Loos hatte ein sehr charakteristisches und leicht wiederzuerkennendes Äußeres. Das war einer der Gründe, warum er den größten Teil seines Lebens nach dem Prinzip verbracht hatte, sich niemals persönlich auf ungesetzliche Handlungen einzulassen. Und dieses Prinzip sollte er nun wegen Henriette brechen. Verfluchter Mist.
Curt Loos war siebenunddreißig Jahre alt und genau so klein und drahtig wie seine Schwester. Sein glattes Haar war noch immer dicht, und er gestattete sich eine gewisse Länge, sodass die hübsche korngelbe Farbe zu ihrem Recht kam. Jeden Morgen kämmte er es nach hinten, scheitelte es und festigte die ganze Herrlichkeit mit einem kräftigen Haarspray. Er wusste nicht, dass diese kunstfertige Frisur ihm unter den Prostituierten seiner Bordelle den Spitznamen Goldlöckchen eingebracht hatte. Wäre es ihm zu Ohren gekommen, hätte es ihn zwar sicher nicht amüsiert, aber seine Frisur hätte er deswegen vermutlich nicht geändert. Der goldene Helm war nämlich ein bewusster Versuch, die Aufmerksamkeit der Leute von seiner Haut abzulenken. Denn Curt Loos litt an Vitiligo – weiten Teilen seiner Haut fehlte es an Pigmenten. Große weiße Flecken, die das ganze Jahr über zu sehen waren, zogen sich über sein Gesicht und seinen Körper. Am deutlichsten traten sie im Sommer hervor, wenn die übrige Haut wie bei anderen Menschen dunkler wurde. Als junger Mann hatte er versucht, die Flecken mit Make-up abzudecken, mit dem Resultat war er allerdings nie zufrieden gewesen. Jetzt hatte er es aufgegeben und ließ die Flecken in Ruhe. Allerdings hoffte er, dass die Leute mehr auf seine Haare als auf seine Haut achteten.
Curt Loos hielt auf dem Platz vor dem Haus. Er sah den Wohnort seiner jüngeren Schwester zum ersten Mal, und er musste sich ernsthaft zusammenreißen, um nicht beeindruckt zu sein. Sein eigenes Haus in Herning war nicht zu verachten und doch bei Weitem nicht so imposant wie dieses. Offenbar zahlte sich die Werbebranche in Kombination mit ein paar kreativen Vermietungen mindestens ebenso aus wie ein Haufen Huren in ganz Jütland. Ungläubig schüttelte er den Kopf und stieg aus dem Auto.
Als er die Klingel drückte, öffnete Flemming Torp die Tür. Curts Instinkte signalisierten ihm sofort, um was und wen es sich bei dem Fremden handelte. Er drehte sich blitzschnell um. In diesem Moment traten vier
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