Die guten Frauen von Christianssund: Sommerdahls erster Fall (German Edition)
sofort zum Angriff übergegangen, und er hatte gewusst, dass sie es tun würde. Sie hatte ihn wüst beschimpft, wie er nur so unfair sein könne. Unglaublich, einen Arzt dazu bringen zu wollen, die Schweigepflicht zu brechen. Und noch dazu vor Zeugen! Sie tobte. Vielleicht hatte Dans Unbehagen, in den letzten Stunden im Privatleben anderer Menschen herumgeschnüffelt zu haben, ihn besonders schutzlos gegenüber Mariannes Angriff werden lassen. Jedenfalls war ihr Streit diesmal hysterisch und kurz – so wie der darauf folgende versöhnende Beischlaf auch.
Am nächsten Morgen ließen sie sich viel Zeit beim Frühstück. Mittwochs arbeitete Marianne immer erst von 12 . 00 bis 18 . 00 Uhr. Während Dan im Bad war, hatte sie frisch gepressten Saft und Rühreier zubereitet, im Gefrierfach eine Tüte Miniflûtes und im Kühlschrank eine Packung Parmaschinken und eine Melone gefunden. Kochendes Wasser, Nescafé und etwas heiße Milch vollendeten den gedeckten Tisch. Sie hatten die Mahlzeit in einträchtiger Stille genossen und sich die
Politiken
geteilt – jeder bekam eine Hälfte der Tageszeitung.
»Ich fahre nachher in die Agentur«, sagte Dan zwanzig Minuten später und goss ihnen noch etwas Saft ein, er musste nicht einmal fragen. »Ich muss mit Kurt reden.«
»Wann du wieder anfängst zu arbeiten oder worüber?« Mariannes Stimme klang ein wenig undeutlich, da sie ein kräftiges Haargummi zwischen den Vorderzähnen hielt. Ihre Hände lagen im Nacken, wo sie mit imponierender Sicherheit die rotbraune Mähne in drei lange Stränge teilte, die sie blitzschnell miteinander verschlang, bis sie einen dicken Zopf bildeten, der ihr fast bis zur Taille reichte. Im Handumdrehen wurde das Gummi um den Ansatz des Zopfes gedreht: einmal, zweimal, dreimal – fertig! Dan war völlig hypnotisiert, wie unbeschwert ihre Hände arbeiteten, ohne dass sie sehen konnte, was die Hände eigentlich taten. Vermutlich ermöglichte es ihr die gleiche Fähigkeit, einen ganzen Pullover zu stricken, ohne den Blick vom Fernsehschirm abzuwenden. Dans Augen klebten an ihren Händen. Sie waren ebenso geschmeidig und funktionstüchtig wie der Rest von ihr. Wenn er seine Frau bisweilen mit einem Shetlandpony verglich, dann eigentlich nicht nur wegen des langen, widerspenstigen Stirnhaars, der blanken, dunklen Augen oder des charakteristischen schelmischen Mienenspiels. Dazu kamen ihr Körperbau, ihre robusten Knochen, die deutlichen Muskeln, die energischen Bewegungen, sie war wirklich ein energiegeladenes kleines Pony – immer neugierig darauf herauszufinden, was sich wohl hinter dem nächsten Hügel verbarg.
Marianne bemerkte, dass er sie anstarrte. »Hallo?« Sie wedelte mit der Hand vor dem Gesicht ihres Mannes.
»Entschuldigung.« Er blinzelte. »Was hast du gefragt?«
»Ob du mit Kurt darüber reden willst, wann du wieder anfängst.«
»Ja.«
»Und wann soll das sein?«
»Du meinst, wann ich wieder arbeiten will?«
»Ja. Wann. Hast. Du. Dir. Gedacht. Wieder. Zur. Arbeit. Zu. Gehen?«, fragte sie übertrieben langsam.
Dan antwortete nicht, sein Blick schien ins Unendliche gerichtet. Marianne betrachtete ihn über den Rand ihrer Kaffeetasse. »Du hast dir hoffentlich nicht gedacht, jetzt sofort anzufangen, oder?«
»Schwer zu sagen.« Er fing an, mit einer feuchten Fingerspitze Krümel von seinem Teller aufzutupfen. »So richtig krank bin ich ja nicht mehr. Die anderen sehen doch, wie ich mit Flemming herumlaufe und Räuber und Gendarm spiele. Ich will schließlich kein Schwänzer sein.«
»Dan.« Sie griff nach seiner Hand, er musste das Krümelsammeln unterbrechen. »Du bist noch nicht so weit.«
»Na ja, aber wenn …«
»Wenn Sebastian Kurt glaubt, dass du schwänzt, ist das sein Problem.« Sie drückte seine Hand. »Du bist noch nicht so weit.«
Dan stand auf. »Das sagt sich so leicht.« Er räumte den Tisch ab und stellte das Geschirr in die Spülmaschine. »Das Problem ist nicht, dass Kurt meinen könnte, ich würde blaumachen. Das Problem ist, dass ich es meine. Verstehst du das nicht?«
»Nein, aber versuch’s mir bitte zu erklären.«
Er hielt mitten in seiner Bewegung inne und lehnte sich mit einem Brotmesser in der Hand an den Küchentisch. »Ich merke schon, dass ich müder bin als gewöhnlich, obwohl ich nicht mehr die ganze Zeit das Gefühl habe, total erledigt zu sein. In gewisser Weise weiß ich also durchaus, dass ich noch nicht hundertprozentig klar bin. Aber sobald ich draußen bin und jogge oder wenn ich
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